Jubiläumsfilme des Aufführungsjahres 1922
Die erste deutsche parlamentarische Demokratie von 1918 bis 1933 bildete den gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und künstlerischen Rahmen für eine der interessantesten Perioden der internationalen Filmgeschichte.
Stummfilme wie Robert Wienes expressionistischer Horrorfilm "Das Cabinet des Dr. Caligari" (1920), Friedrich Wilhelm Murnaus Vampirgeschichte "Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens" (1922) und Fritz Langs Science-Fiction-Monumentalfilm "Metropolis" (1927) entstanden in dieser Zeit, sind vielzitierte Meilensteine der Filmgeschichte und ziehen auch heute noch ein weltweites Publikum in ihren Bann.
Die Initiative "100 Jahre Stummfilm-Klassiker der Weimarer Republik" stellt jedes Jahr eine Auswahl an Filmen vor, die dann ihr hundertjähriges Veröffentlichungsjubiläum feiern. Die Zusammenstellung orientiert sich an der filmhistorischen Bedeutung der Werke, also an inhaltichen, technischen und gestalterischen Kriterien. Auch wurde die Rezeptionsgeschichte berücksichtigt. Die Zuordnung der Film an das jeweilige Jahr richtet sich, soweit möglich, nach den Uraufführungsterminen.
♦ "Fridericus Rex", Regie: Arzen von Cserépy, Uraufführung von Teil 1 & 2 am 30. Januar 1922, Teil 3 & 4 am 19. März 1923, jeweils im Berliner Ufa-Palast am Zoo
♦ "Das Weib des Pharao", Regie: Ernst Lubitsch, Uraufführung am 21. Februar 1922 in New York; Deutsche Erstaufführung am 14. März 1922 im Berliner Ufa-Palast am Zoo
♦ "Die Gezeichneten", Regie: Carl Theodor Dreyer, Deutsche Uraufführung am 23. Februar 1922 in den Berliner Primus-Palast-Lichtspielen
♦ "Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens", Regie: Friedrich Wilhelm Murnau, Uraufführung am 04. März 1922 im Marmorsaal des Zoologischen Gartens Berlin
♦ "Der brennende Acker", Regie: Friedrich Wilhelm Murnau, Uraufführung am 09. März 1922 im Berliner Marmorhaus
♦ "Othello", Regie: Dimitri Buchowetzki, Uraufführung am 18. März 1922
♦ "Dr. Mabuse, der Spieler", Regie: Fritz Lang, Uraufführung am Uraufführung am 27. April 1922 im Berliner Ufa-Palast am Zoo
♦ "Das Wunder. Ein Film in Farben", Regie: Julius Pinschewer, Walter Ruttmann, Uraufführung nach dem 09. August 2022 (Zensurfreigabe)
♦ "Vanina oder Die Galgenhochzeit", Regie: Arthur von Gerlach, Uraufführung am 06. Oktober 1922 im Berliner U.T. Kurfürstendamm
♦ "Phantom", Regie: Friedrich Wilhelm Murnau, Uraufführung am 13. November 1922 im Berliner Ufa-Palast am Zoo
♦ "Nathan der Weise", Regie: Manfred Noa, Uraufführung am 29. Dezember 1922 im Berliner Alhambra
Filmkanon für das Aufführungsjahr 1922
Die Sehnsucht des Kinopublikums nach siegreichen preußischen Zeiten
'Typecasting' nennt man es auf Englisch, wenn Schauspieler*innen auf bestimmte Rollen so festgelegt werden, dass Rolle und Mensch für das Publikum miteinander verschmelzen. Selten war ein Schauspieler so 'typecast' wie Otto Gebühr in der Rolle Friedrichs des Großen. Zwischen 1920 und 1942 spielte er den alten Fritz in achtzehn Filmen. Das zeigt zum einen, wie sehr der Schauspieler Gebühr dem vor allem durch Historiengemälde von Adolf von Menzel und Arthur Kampf geprägten Bild des Monarchen entsprach, zum anderen aber auch wie populär das Sujet in diesen Jahren war.
Nachdem er 1920 in "Die Tänzerin Barberina" in der Rolle debütiert hatte, drückte Gebühr ihr in den vier Teilen von "Fridericus Rex", die 1922 und 1923 in die Kinos kamen, endgültig seinen Stempel auf. Von diesen Filmen - "Sturm und Drang", "Vater und Sohn", "Sanssouci" und "Schicksalswende" – war nur der letzte für die Rezension zugänglich. "Schicksalswende" konzentriert sich, bei recht freiem Umgang mit historischen Ereignissen, auf die Schlacht bei Leuthen, der hier die entscheidende Wende im siebenjährigen Krieg zugeschrieben wird.
Die Ereignisse und die sich darum rankenden Legenden mussten jedem deutschen Schulkind wohlbekannt sein, und so ist "Schicksalswende" vor allem als Illustration einer preußischen Heldensage zu sehen. Der Film ist in zwei gegensätzliche Hälften geteilt. Die erste Hälfte ist fast schon ein Kammerspiel. Am Vorabend der Schlacht sitzt Friedrich II in einem Bauernhaus und verzweifelt schier ob der aussichtslosen Lage. Während draußen die Stimmung seiner hungrigen Truppen immer rebellischer wird erreichen den König stetig neue Katastrophenmeldungen: seine Generäle haben sich andernorts ergeben oder sind gefallen und zu allem Überfluss ist auch noch seine Schwester gestorben.
Friedrich erlaubt sich einen seltenen Moment der Schwäche, beichtet einem Vertrauten seine Verzweiflung und spricht gar von Todessehnsucht. Dann reißt er sich allerdings wieder zusammen, nimmt das Heft der Schlacht in die Hand und schlägt die Österreicher durch ebenso unkonventionelle wie geniale strategische Entscheidungen. Diese Hälfte des Films ist ein opulentes Schlachtengemälde mit einer großen Zahl von Statisten in historischen Uniformen. Am Ende des Films sehen wir den siegreichen Friedrich, allein in seiner Residenz einem Konzert lauschend.
Dass das Kinopublikum sich in den Jahren 1922 und 1923 gern in siegreiche preußische Zeiten zurückversetzen ließ, darf nicht verwundern. Die schmerzhafte Niederlage im Ersten Weltkrieg lag gerade einmal vier Jahre zurück. Auch die Figur des weisen Monarchen, der sich als 'erster Diener des Staates' ganz einsetzte und sein Land ebenso mutig wie intelligent zu neuer Größe führte, muss tiefsitzende Sehnsüchte der Zeitgenoss*innen befriedigt haben, in einer Zeit der Hyperinflation und des Ruhrkampfes. Die Figur des aufgeklärten absoluten Monarchen bildete ein attraktives Gegenbild zu den von vielen als unsicher empfundenen neuen politischen Verhältnissen. Und davon profitierte nicht zuletzt Otto Gebühr.
Autor: Arndt Pawelczik
Credits
Titel: Fridericus Rex
Regie: Arzen von Cserépy
Drehbuch: Arzen von Cserépy, Hans Behrendt, Bobby E. Lüthge
Kamera: Guido Seeber
Darsteller: Otto Gebühr, Albert Steinrück, Gertrud de Lalsky, Erna Morena, Eduard von Winterstein, Charlotte Schultz, Anton Edthofer, Lothar Müthel, Werner Hollmann, Eva May, Theodor Becker
Produktionsfirma: Cserépy-Film Co. G.m.b.H. Berlin
Produzent: Arzen von Cserépy
Uraufführung: Teil 1 & 2 am 30. Januar 1922, Teil 3 & 4 am 19. März 1923, jeweils im Berliner Ufa-Palast am Zoo.
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Monumentales Altägypten-Spektakel aus Berliner Produktion
Für Ernst Lubitsch waren die phänomenalen internationalen Erfolge seiner Filme "Carmen" (D 1918), "Madame Dubarry" (D 1919) und "Anna Boleyn" (D 1920) das Sprungbrett nach Hollywood. Um Nägel mit Köpfen zu machen legte er mit "Das Weib des Pharao" noch eine weitere Großproduktion gleicher Art nach, reiste zur amerikanischen Pemiere nach New York, trat dort prompt in Verhandlungen mit der damals größten Filgesellschaft der Welt, Paramount Famous-Lasky, ein und führte bald schon Regie in seinem ersten amerikanischen Film.
Nicht nur, dass Lubitsch "Das Weib des Pharao" ganz nach dem Muster seiner früheren internationalen Kassenknüller drehte, er griff dazu auch zum letzten Mal auf die einzigartigen Standortvorteile in Deutschland zurück. In den Jahren vor der Währungsreform 1923 ließen sich in Berlin Monumentalfilme verwirklichen mit einem Budget, für das man andernorts nicht einmal eine Kurzkomödie hätte herunterkurbeln können. In und um Berlin entstanden so für den Film aufwendigste Kulissen, die das Publikum mühelos an die Ufer des Nils zu transportieren vermochten. Um diese gewaltigen Fassadenbauwerken herum tummelten sich Tausende von Statisten.
Aber all das macht noch keinen Lubitsch Film. In den monumentalen altägyptischen Bauten, gekleidet in Pharaonenprunk und behängt mit Juwelen, treffen wir echte Menschen mit all ihren Schwächen und Unzulänglichlichkeiten. Und hier kommt dem Film ein weiterer Standortvorteil zugute. Nahezu alle Rollen sind mit der ersten Garde der Berliner Theaterschauspieler besetzt, die den steifen Kulissen echtes Leben einhauchen. Emil Jannings, Paul Wegener, Harry Liedtke, Lyda Salmonova, Albert Bassermann, Paul Biensfeldt und Dagny Servaes wetteifern vor der Kamera in diesem Spiel um Macht und Liebe.
Zum ägyptischen Pharao Amenes (Jannings) reist der König von Äthiopien (Wegener), um einen Bund zu schließen und mit der Hand seiner Tochter (Salmonova) zu besiegeln. Unterwegs macht ihm der junge Ramphis (Liedtke) die griechische Sklavin Theonis (Servaes) abspenstig. Ramphis ist der Sohn von Sothis (Bassermann), dem Baumeister des königlichen Schatzhauses. Diesem Schatzhaus nähern sich Theonis und Ramphis unerlaubt und werden dafür zum Tode verurteilt. Aber Amenes verliebt sich Hals über Kopf in die schöne Griechin und überwirft sich wegen ihr sogar mit dem König der Äthiopier. Unter der Bedingung, dass Ramphis am Leben bleibt, willigt Theonis in die Ehe mit Amenes ein.
Nun kommt es zum Krieg gegen Äthiopien. Amenes muss ins Feld ziehen und da Theonis ihm nicht Treue schwören will, läßt er sie ins neue Schatzhaus einmauern und den Baumeister zur Sicherheit blenden. Ramphis, der in den Steinbrüchen Zwangsarbeit leistet, organisiert eine Revolte, flieht zurück nach Theben und befreit die Geliebte mithilfe der Baupläne seines Vaters. Amenes‘ Armee wird von den Äthiopiern besiegt und der Pharao selbst für tot in der Wüste zurückgelassen. Unter Ramphis Führung verteidigen die Einwohner Thebens ihre Stadt. Unter dem Jubel des Volkes wählt Theonis Ramphis als ihren Ehemann und neuen Pharao. Doch da kehrt der totgeglaubte Amenes zurück.
Der zehnmonatige Dreh von "Das Weib des Pharao" kostete ca. 18 Millonen Mark. Wie die amerikanische Zeitschrift Variety damals vorrechnete, entsprach das ca. 80.000 Dollar. Obwohl der Film den Erfolg von Lubitschs früheren Produktionen in den USA nicht ganz erreichen konnte, war dieser Betrag schnell eingespielt und dem Wechsel des ersten deutschen Starregisseurs nach Hollywood stand nichts mehr im Wege.
Autor: Arndt Pawelczik
Credits
Titel: Das Weib des Pharao
Regie: Ernst Lubitsch
Drehbuch: Norbert Falk, Hanns Kräly
Kamera: Theodor Sparkuhl, Alfred Hansen
Darsteller: Emil Jannings, Harry Liedtke, Dagny Servaes, Paul Wegener, Lyda Salmonova, Albert Bassermann, Paul Biensfeldt, Friedrich Kühne, Mady Christians, Elsa Wagner
Produktionsfirma: Ernst Lubitsch-Film GmbH Berlin
Produzenten: Ernst Lubitsch, Paul Davidson
Uraufführung: 21. Februar 1922 in New York; Deutsche Erstaufführung am 14. März 1922 im Berliner Ufa-Palast am Zoo
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Blu-ray/DVD-Veröffentlichung von Alpha Omega Digital
Studium menschlicher Seelenzustände
Carl Theodor Dreyer zählt zu den Regisseuren, ähnlich wie Jean Vigo oder Stanley Kubrick, die durch wenige Filme legendären Status erlangt haben. Bei Dreyer sind das vor allem sein letzter Stummfilm "La passion de Jeanne d'Arc" (F 1928) und sein erster Tonfilm "Vampyr" (D 1932). In den 32 Jahren danach drehte Dreyer nur noch vier weitere Spielfilme, die allesamt ebenso individuell wie eindrucksvoll sind. Dreyers frühe Stummfilme sind zwar deutlich konventioneller, sie zeigen aber bereits große Sorgfalt und Meisterschaft in der Beherrschung des Mediums.
"Die Gezeichneten" entstand in Deutschland mit einem internationalen Ensemble von Schauspielern nach einer dänischen Romanvorlage. Zuvor war Dreyer mit seinen Filmarchitekten nach Lublin in Polen gereist, um sich für die Kulissen des Films inspirieren zu lassen. Und so wirkt die galizische Kleinstadt authentisch, ebenso wie ihre Bewohner. Dreyer, eigentlich ein Regisseur der stillen Töne, musste für "Die Gezeichneten" Massenszenen choreographieren und filmen, was ihm erstaunlich gut gelang.
Der Film erzählt eine Geschichte aus dem Russland des Jahres 1905. Unruhe macht sich in der Bevölkerung breit und eine Revolution steht kurz bevor. Die Geheimpolizei versucht den Hass der Bevölkerung von der Zarenfamilie auf die jüdische Minderheit im Land abzulenken. Wir folgen den Schicksalen von Menschen, die dabei zwischen die Fronten geraten, vor allem als es zu einem Pogrom gegen die jüdischen Einwohner einer Kleinstadt kommt.
Der Film behandelt seine Charaktere mit großer Empathie und Differenziertheit. Wir erleben die Enge in der jüdischen Gemeinde, der die Geschwister Hanne-Liebe (Polina Piekowskaja) und Jakow (Vladimir Gajdarov) zu entfliehen suchen, aber gleichzeitig auch die Nestwärme und Geborgenheit, die diese Gemeinschaft ihren Mitgliedern bietet. Unter den russischen Revolutionären gibt es Idealismus und Heldenmut, aber auch Opportunismus und Verrat. Die Einfachheit der russischen Kleinstädter und Bauern wirkt auf eine naive Art anheimelnd, aber nur so lange bis sie sich zu einem mörderischen Überfall auf ihre jüdischen Nachbarn aufwiegeln lassen.
Wenn es dem Film gelingt, all dies ohne Schwarzweißmalerei zu zeigen, so liegt das auch daran, dass Dreyer ein Meister der Kameraarbeit und des Schnitts ist. Wie in allen seinen Filmen setzt er den Wechsel von Großaufnahmen und Totalen geschickt ein und lässt uns vor allem genug Zeit Gesichter zu studieren. Dabei hilft es natürlich, dass viele der Rollen mit arrivierten Bühnenschauspielern, nicht zuletzt vom Moskauer Künstlertheater Stanislawskis, besetzt sind. Die Parallelmontagen beim Überfall auf das jüdische Wohnviertel zeigen, wieviel Dreyer bei D.W. Griffith gelernt hat. Wie in fast allen seinen Filmen liegt Dreyers Augenmerk auch in "Die Gezeichneten" auf einem genauen Studium menschlicher Seelenzustände, vor allem von Charakteren, die unter großen emotionalen Belastungen stehen oder spirituelle Krisen durchleben. Dreyer ist hierbei ein überaus feinfühliger Beobachter und ein Meister darin, die Ergebnisse seiner psychologischen Analysen auf zuweilen geradezu niederschmetternde Art in Filmbilder umzusetzen.
Autor: Arndt Pawelczik
Credits
Titel: Die Gezeichneten
Regie: Carl Theodor Dreyer
Drehbuch: Carl Theodor Dreyer
Kamera: Friedrich Weinmann
Darsteller: Polina Piechowska, Wladimir Gaidarow, Adele Reuter-Eichberg, Johannes Meyer, Thorleif Reiss, Richard Boleslawski, Duwan-Torzow, Sylvia Torf, Hugo Döblin, Iwan Bulatoff, Elisabeth Pinajeff, Emmy Wyda, Tatjana Tarydina, Friedrich Kühne
Produktionsfirma: Primus-Film GmbH Berlin
Produzent: Otto Schmidt
Uraufführung (Deutschland): 23. Februar 1922 in den Berliner Primus-Palast-Lichtspielen
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DVD-Veröffentlichung und On-Demand-Abruf (Vimeo und Amazon Prime) von absolut MEDIEN GmbH
Meilenstein des Genre
"Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens" ist, neben "Metropolis" (D 1927) und "Das Cabinet des Dr. Caligari" (D 1920), einer der wenigen deutschen Stummfilme, von dem die meisten Menschen schon einmal gehört haben. Film- und vor allem Horrorfilmfreund*innen kennen die oft verwendeten Standfotos und Ausschnitte aus dem Film: eine unheimliche, hagere Gestalt tritt durch eine merkwürdig gotisch geformte Zimmertür, die Gestalt steigt eine Treppe hinauf und ihr Schatten gleitet ihr riesenhaft voran, in einem Bett bricht eine junge Frau zusammen als sich der Schatten einer Kralle über ihrem Körper schließt, endlich verdampft der Vampir in dramatischer Geste, als ihn die ersten Morgenstrahlen durch ein Fenster treffen.
Diese Bilder prägen in starkem Maße den Eindruck, den sich die Welt in den letzten hundert Jahren vom deutschen Stummfilm insgesamt gemacht hat. Sie sind über die Maßen wirkmächtig und haben "Nosferatu" sowie vielen, die an der Realisierung des Films mitgewirkt haben, geradezu legendären Status verliehen. So wird gern über den okkultistischen Hintergrund von Albin Grau spekuliert, der "Nosferatu" produzierte und Bauten sowie Kostüme entwarf. Hartnäckig hält sich auch das Gerücht, Max Schreck sei nicht nur der Hauptdarsteller, sondern tatsächlich selbst ein Vampir gewesen. Und ebenso bezeichnender- wie makabrerweise wurde 2015 der Schädel des Regisseurs F.W. Murnau aus seiner Berliner Grabkammer entwendet.
Dabei muss man nicht wild spekulieren, um spannende Geschichten über den Film erzählen zu können. Die Produktionsfirma Prana Film ließ hier nämlich den Roman "Dracula" von Bram Stoker verfilmen – einen Stoff, an dem sie keineswegs die Rechte hatte. Zwar wurden Namen und Handlung verändert und der Schauplatz von England in die fiktive norddeutsche Stadt Wisborg verlegt, das konnte aber niemanden täuschen, vor allem nicht die streitbare Witwe des Autors. Florence Stoker ging sofort gerichtlich gegen die offensichtliche Urheberrechtsverletzung vor und erhielt 1925 vor einem Berliner Bericht Recht. Da war die Prana Film aber schon längst bankrott und der Film gepfändet. Laut Gerichtsbeschluss sollten alle Kopien von "Nosferatu" vernichtet werden, das gelang aufgrund ihrer internationalen Verbreitung zum Glück nicht. Unterdessen verkaufte Witwe Stoker die Rechte an "Dracula" an die Universal, die ihren eigenen Film drehten und sich nicht weiter um den stummen Vorläufer kümmerten.
So liegt uns "Nosferatu" heute recht vollständig vor. Erzählt wird die Geschichte des jungen Hutter, der von dem Häusermakler Knock in die Karpaten geschickt wird um dem dort ansässigen Graf Orlock eine Immobilie in Wisborg zu verkaufen. Als Hutter erkennt, dass Orlock ein Vampir ist, ist es zu spät. Orlock reist per Schiff nach Wisborg, saugt unterwegs die komplette Mannschaft aus und kommt schließlich wie die Pest über die Stadt. Der geschwächte Hutter reist ihm nach um seine Frau Ellen vor dem Monster zu retten. Die weiß aber selbst was zu tun ist. Es gelingt ihr, den Vampir bis nach dem Morgengrauen bei sich zu behalten, sodass die ersten Sonnenstrahlen ihm ein Ende bereiten.
Die meisterliche Regie von Friedrich Wilhelm Murnau und die Kameraarbeit von Fritz Arno Wagner setzen diese Geschichte in eindringliche Bilder um und machen "Nosferatu" damit zum ersten Meilenstein des Genres. Albin Graus künstlerische Leitung verlegt die Filmhandlung in die Zeit des Biedermeiers, und so atmet "Nosferatu" vor allem eine Stimmung der deutschen Romantik – in ihren hellen wie düsteren Spielarten. Wie bereits bei "Der Gang in die Nacht" (D 1921) gelingt es Murnau hervorragend, in den vielen Außenaufnahmen des Films die Natur quasi an der Handlung des Films teilhaben zu lassen, wie Lotte Eisner in "Die dämonische Leinwand" hervorhebt. Jede Einstellung ist bedeutungsschwer und trägt Vorahnungen des Schicksals in sich.
"Nosferatu" arbeitet auch mit Spezialeffekten, wie es zum Beispiel George Méliès bereits in den Kindertagen des Films tat. Einige dieser Effekte sind auch heute noch sehr wirksam: die Szene, in der sich der Vampir kerzengerade aus seinem Sarg erhebt ist seither unzählige Male zitiert worden. Andere – wie Zeitrafferaufnahmen und als Negativ eingeschnitte Szenen – verfingen laut Lotte Eisner bereits seinerzeit nicht beim Publikum. Wenn "Nosferatu" einen derart nachhaltigen Eindruck hinterlässt, so liegt das nicht zuletzt an der Besetzung der Titelrolle mit dem relativ unbekannten Theaterschauspieler Max Schreck, den die Maske im Film glaubwürdig in einen lebenden Kadaver verwandelt hat. Dieses Bild bleibt im Kopf des Betrachters, vor allem in Kombination mit dem stark assoziativen Filmtitel.
“Nosferatu – tönt dieses Wort nicht wie der mitternächtliche Ruf eines Totenvogels? Hüte Dich es zu sagen, sonst verblassen die Bilder des Lebens zu Schatten, spukhafte Träume steigen aus dem Herzen und nähren sich von Deinem Blut”, so ein Zwischentitel.
Autor: Arndt Pawelczik
Credits
Titel: Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens
Regie: Friedrich Wilhelm Murnau
Drehbuch: Henrik Galeen
Kamera: Fritz Arno Wagner, Günther Krampf
Darsteller: Max Schreck, Gustav von Wangenheim, Greta Schröder, Alexander Granach, Georg Heinrich Schnell, John Gottowt, Gustav Botz, Max Nemetz, Ruth Landshoff
Produktionsfirma: Prana-Film GmbH Berlin
Produzent: Enrico Dieckmann, Albin Grau
Uraufführung: 04. März 1922 im Marmorsaal des Zoologischen Gartens Berlin
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Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung
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Blu-ray/DVD-Veröffentlichung der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung
Reicher Schatz an Berliner Bühnendarsteller*innen
"Der brennende Acker" von Friedrich Wilhelm Murnau ist ein ländliches Moralstück, wie schon einer der ersten Zwischentitel zeigt: "Gib Acht auf Johannes. Er ist mir zu ehrgeizig für einen Bauern. Er soll auf dem Hof bleiben und die Maria nehmen." So spricht der alte Bauer Rog (Werner Krauß) auf dem Sterbebett zu seinem Sohn Peter (Eugen Klöpfer) über dessen Bruder. Natürlich denkt Johannes (Wladimir Gaidarow) gar nicht daran auf dem Hof zu bleiben. Er bestätigt das Urteil des sterbenden Vaters, verschmäht die Liebe Marias (Grete Diercks), tritt beim Gutsbesitzer Graf Rudenburg (Eduard von Winterstein) als Sekretär in den Dienst und macht sich an Gerda (Lya de Putti), dessen Tochter aus erster Ehe, ran. Als er allerdings erfährt, dass Helga (Stella Arbenina), die zweite Frau Rudenburgs, den Teufelsacker erben wird, schwenkt Johannes strategisch um. Der Teufelsacker, so hat er nämlich herausgefunden, birgt ein großes Erdölvorkommen.
Der alte Graf stirbt. Johannes heiratet Helga und macht sich sofort an die Ausbeutung der Ölquelle, ohne jedoch seine Frau einzuweihen. Die verkauft den für sie wertlosen Acker prompt für ein Butterbrot an Johannes‘ Bruder Peter. Als Johannes das erfährt, zwingt er Helga, den Verkauf rückgängig zu machen. Helga tut das, aber nun weiß sie, dass Johannes sie nicht liebt und geht ins Wasser. Gerda setzt aus Rache die Erdölquelle in Brand. Den nun völlig verzweifelten Johannes nimmt Maria an die Hand und führt den verlorenen Sohn zurück zum väterlichen Hof. Dort findet der Film mit einem passenden Zwischentitel sein Ende, wenn Johannes spricht: "Verzeiht mir, ihr alle! Ich habe an euch gesündigt, denn ich wollte mehr sein als ihr."
In Handlung und Botschaft ist "Der brennende Acker" holzschnittartig. Der positiv dargestellten bäuerlichen Welt wird eine moralisch korrupte Welt des Adels und des Kommerzes gegenübergestellt, nirgendwo deutlicher als in der Einstellung, in der Johannes aus einem Fenster auf den Teufelsacker blickt, der sich plötzlich vor seinem inneren Auge in eine Industrielandschaft voller rauchender Schlote verwandelt. Es ist bezeichnend, dass es ausgerechnet Erdöl, ein Motor der Industrialisierung ist, das als Schatz unter dem unfruchtbaren Stück Land liegt. Nicht minder bezeichnend ist, dass dieses Stück Land ‚Teufelsacker‘ genannt wird, denn es ist das Versprechen auf Gewinn, dass die Menschen in "Der brennende Acker" ins Verderben treibt.
Der Film hat seine Stärken in der Ausstattung. Der anheimelnden Bauernküche des Roghofes wrd immer wieder die kalte Monumentalität des Gutshauses derer von Rudenburg gegenüberstellt. Die Schauplätze symbolisieren idealtypisch die zentrale Dichotomie der Handlung. Entworfen wurden die Bauten von Rochus Gliese. In Szene gesetzt haben sie zwei Meister der Kamera: Karl Freund und Fritz Arno Wagner. Der Kritiker der französischen Filmzeitschrift Hebdo-Film war 1923 begeistert: "Man spürt nirgends das Filmatelier, nie den Dekor [...]. Die Interieurs sind bestimmt umrissen, mit einer Kunst ohnegleichen ausgeleuchtet. Die Fenster gehen auf echte Exterieurs."
Bei den Schauspieler*innen greift Murnau wieder auf den reichen Schatz an Berliner Bühnendarsteller*innen zurück. Leider hat er sich für die Rolle des Johannes für den russischen Akteur Wladimir Gaidarow entschieden. Der sieht zwar fabelhaft aus und man nimmt ihm gern ab, dass ihm alle weiblichen Charaktere heillos verfallen, sein Spiel beschränkt sich aber leider gefühlt 90 Prozent der Zeit auf ein grübelndes Starren in die Halbdistanz, mal rechts, mal links an der Kamera vorbei.
"Der brennende Acker" ist ein konventioneller, vor allem aber ein kompetenter, solider Film, der seinerzeit bei Publikum und Kritik erfolgreich war. Mit "Nosferatu" hatte Murnau aber bereits gezeigt, dass er auch zu Meisterleistungen in der Lage war. Davon sollten bald noch mehr folgen.
Autor: Arndt Pawelczik
Credits
Titel: Der brennende Acker
Regie: Friedrich Wilhelm Murnau
Drehbuch: Willy Haas, Thea von Harbou, Arthur Rosen
Kamera: Fritz Arno Wagner, Karl Freund
Darsteller: Eugen Klöpfer, Wladimir Gaidarow, Werner Krauß, Eduard von Winterstein, Lya de Putti, Stella Arbenina, Alfred Abel, Grete Diercks, Elsa Wagner, Emilie Unda, Leonie Toliansky, Georg John
Produktionsfirma: Deulig-Film GmbH Berlin, Goron-Film GmbH Berlin
Produzent: Sascha Goron
Uraufführung: 09. März 1922 im Berliner Marmorhaus
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Dieser Shakespeare steht voll im Saft
Nachdem der russische Regisseur Dimitri Buchowetzki 1921 den Film "Danton" mit Emil Jannings und Werner Krauß in den Hauptrollen gedreht hatte, engagierte er die beiden Größen der Berliner Bühnen ein Jahr später erneut, diesmal für seine Verfilmung des Shakespeare- Dramas "Othello". Jannings spielt den 'Moor von Venedig', wie seinerzeit üblich 'als weißer Schauspieler in schwarzer Maske'. Er kann in dieser klassischen Rolle das gesamte Feuerwerk Jannings’scher Schauspielkunst abbrennen, von leutselig jovial bis herrisch dominant, hat aber vor allem reichlich Gelegenheit für sein besonderes Schaustück: die Darstellung eines von den Umständen Übermannten, dem ein unerträgliches Schicksal die Kontrolle über sich selbst entrissen hat. Krauß spielt Jago, den wohl widerlichsten Schurken in Shakespeares Kanon.
Bis kurz vor dem Ende des Films hält sich Buchowetzki, der auch für das Drehbuch verantwortlich ist, an die Vorlage. Othello, ein erfolgreicher Admiral der venezianischen Flotte, liebt Desdemona (Ica von Lenkeffy), die Tochter eines Ratsherren, und sie ihn. Da Desdemonas Vater (Friedrich Kühne) dem Afrikaner die Hand seiner Tochter verweigert, heiraten sie heimlich. Jago, dem Othello völlig vertraut, neidet ihm sein Glück, vor allem nachdem Othello Cassio (Theodor Loos) statt seiner befördert hat. Jago zieht nun heimlich fleißig Strippen, um sich an Othello zu rächen. Dabei nutzt er die Gutgläubigkeit Othellos, Desdemonas, Cassios, seiner eigenen Frau Emilia (Lya de Putti) und des reichen Trottels Rodrigo (Ferdinand von Alten) schamlos aus. Jago hat erkannt, dass Othellos größte Schwäche unbändige Eifersucht ist. Er sät also geschickt immer mehr Zweifel an Desdemonas Treue, bis er Othello und alle anderen Beteiligten ins Unglück getrieben hat.
Am Schluss weicht Buchowetzki dann von der Vorlage ab. Der große französische Regisseur René Clair lobte ihn für diese freie Auslegung, die dem Geist statt den Buchstaben des Stückes folge. Insgesamt kam "Othello" bei der zeitgenössischen Kritik gut an. Selbst das gegenüber europäischen Filmen traditionell eher kritisch eingestellte amerikanische Fachblatt "Variety" schrieb: "Vom künstlerischen Standpunkt ist der Film ein Triumph. Der Othello des Hauptdarstellers Emil Jannings stellt eine großartige schauspielerische Leistung dar, und die Produktion läßt nichts zu wünschen übrig.", nur um sofort wieder den kommerziellen Wert solcher Kunstfilme in amerikanischen Knos zu bezweifeln.
Heute erscheint Werner Krauß in der Rolle des Jago bemerkenswerter als Emil Jannings, den man in vielen Filmen ähnlich spielen sehen kann. Es gibt wohl keinen anderen Film, in dem der vielbeschäfigte Krauß einen derart perfiden Bösewicht gibt. Er tut dies hier großartig, wohlwissend, dass der Schurke Jago in "Othello" – wie so oft – der eigentliche Star des Dramas ist, weil er viel interessanter ist als der naive Held und zudem das Publikum stets umfassend im voraus über seine teuflischen Pläne informiert. Besonders bemerkenswert wird die Angelegenheit, wenn man weiß, dass Krauß' Darstellung des Jago durchaus als Vorahnung der unrühmlichen, menschenverachtenden Positionen und Rollen gelten kann, die der spätere Träger des Iffland-Rings im Dritten Reich annahm. Man denke nur an seine 'Verkörperung des jüdischen Volkes' in Veit Harlans berüchtigtem Propagandafilm "Jud Süß".
Buchowetzkis Film lebt vor allem von dem Zusammenspiel zweier meisterlicher Schauspieler, denen neben grandiosen Bauten auch eine effektive Ausstattung zur Verfügung stehen. Wie "Danton" wirkt "Othello" oft bühnenhaft, was dem Sujet aber natürlich angemessen ist. Dieser Shakespeare ist nicht akademisch blutleer, sondern steht voll im Saft.
Autor: Arndt Pawelczik
Credits
Titel: Othello
Regie: Dimitri Buchowetzki
Drehbuch: Dimitri Buchowetzki, Carl Hagen
Kamera: Karl Hasselmann, Friedrich Paulmann
Darsteller: Emil Jannings, Werner Krauß, Ica von Lenkeffy, Theodor Loos, Friedrich Kühne, Ferdinand von Alten, Lya de Putti, Magnus Stifter, Ludwig Rex
Produktionsfirma: Wörner-Film Berlin
Uraufführung: 18. März 1922
Weiterführende Informationen
Online-Ausstellung "Das Exotische, das Gewagte" des DFF über Blackfacing, Rassismus, Sexismus und weitere diskriminierende Darstellungen in der Stummfilmzeit
Wikipedia "Othello"
Filmportal "Othello"
IMDB "Othello"
Bilderbogen der Dekadenz
Der viereinhalbstündige Film "Dr. Mabuse, der Spieler" kam 1922 in zwei Teilen in die Kinos, als "Der große Spieler – ein Bild unserer Zeit" und "Inferno – Ein Spiel um Menschen unserer Zeit". Es ist der erste der drei Großfilme, mit denen sich Fritz Lang in den 1920er Jahren einen Namen machte. Diese monumentalen Filme – auf "Dr. Mabuse" folgten "Die Nibelungen" (D 1924) und "Metropolis" (D 1927) – haben legendären Status erlangt und prägen heute weltweit das Bild des deutschen Stummfilms. Was die Filme so besonders macht ist, neben ihrer üpigen Ausstattung und ihrer Ambitioniertheit, die überbordende Freude am Erzählen und deren Umsetzung in eindrucksvolle, oft unvergessliche Bildsequenzen. Ganz großes Kino eben.
Während "Die Nibelungen" in einer mythischen Vergangenheit und "Metropoils" in der Zukunft spielt, nennt sich "Dr. Mabuse" im Titel selbst "ein Bild unserer Zeit". Und was für eine Zeit der Film uns da zeigt: nichts ist wie es scheint, vor allem aber ist nichts wie es sein soll. Die Welt steht Kopf, die alten Autoritäten sind in ihren Grundfesten erschüttert. In der chaotischen neuen Wirklichkeit haben skrupellose Verbrecher die Macht übernommen, allen voran Dr. Mabuse, gespielt von Rudolf Klein-Rogge.
Der Film beginnt damit, dass Mabuse ein Kartenspiel aufblättert. Die Karten zeigen ihn in ganz unterschiedlichen Masken und er wählt die aus, die er an diesem Tag tragen will. Denn Mabuse hat seine Finger überall im Spiel. Als Bankier manipuliert er die Börse, als Psychoanalytiker hält er Vorträge, als Kartenspieler – mal ein junger Mann, mal ein älterer Herr – nimmt er seine Mitspieler aus, als besoffener Prolet verkleidet besucht er heimlich seine unterirdische Geldfälscherwerkstatt, als Agitator wiegelt er die Volksmassen auf und als Hypnotiseur treibt er Menschen ins Verderben. Der Kritiker Kurt Pinthus schrieb zur Premiere im "TageBuch": "Der Regisseur Fritz Lang [hat sich] bemüht, den Wahnwitz unserer Epoche in charakteristischen Typen und Millieus zu konzentrieren [...] und alle Typen sind aus unserer rasenden, korrupten, verwirrten Epoche geboren und schmelzen wieder in diese Welt hinein."
Zu diesen Typen gehört das adlige Paar der Gräfin und des Grafen von Told (Gertrude Welcker, Alfred Abel), degenerierte, kraftlose Vertreter*innen einer untergegangenen Welt. Sie erklärt ihren Gemütszustand so: "Wir haben müdes Blut [...]! Wir brauchen Sensationen ganz besonderer Art, um das Leben ertragen zu können.", kurz bevor sie Mabuse verfällt, der sie entführt und ihren hilflosen Mann in den Selbstmord treibt.
Hull (Paul Richter), den Sohn reicher Eltern, lässt Mabuse von seiner ergebenen Helferin Cara Carozza (Aud Egede Nissen) verführen, um ihm besser sein Geld beim Kartenspiel abzunehmen. Als Hull für Mabuse wertlos geworden ist, wird er erschossen. Auch Mabuses Schergen ergeht es meist nicht besser.
Aus dem Bilderbogen der Dekadenz, der Nacht- und Spielclubs, bevölkert von Schiebern und sensationsgeilen Provinzlern auf Großstadtsafari, sticht einzig der Staatsanwalt von Wenk (Bernhard Goetzke) als Lichtgestalt heraus. Er steht im Film für die staatliche Ordnung, nach der sich die Zuschauer insgeheim sehnen, während sie sich wohlig gruseln beim Betrachten dieser korrupten Welt und ihrer Sumpfblüten.
"Dr. Mabuse" basiert auf dem gleichnamigen Roman von Norbert Jacques, der 1921 in Fortsetzungen in der "Berliner Illustrierten" erschien, ist aber ganz offensichtlich auch stark von den Serienfilmen des französischen Regisseurs Louis Feuillade aus den 1910er Jahren inspiriert, vor allem von "Les Vampires". Auch diese Filme zeigen eine Welt, die von geheimen Verbrechersyndikaten unterwandert ist, denen der Staat oft hilflos gegenübersteht. Der Unterschied besteht darin, dass Feuillades Gangster zufrieden sind, sich eine einträgliche Nische in der Gesellschaft einzurichten. Dr. Mabuse hingegen strebt nach der Allmacht. "Es gibt kein Glück, es gibt nur Willen zur Macht" und "nichts auf der Welt ist auf Dauer interessant! – außer [dem] Spiel mit Menschen und Menschen-Schicksalen!" lässt Fritz Lang ihn sagen.
Es war der Regisseur selbst, der nach dem Ende des Dritten Reichs, das ihn zur Emigration in die USA gezwungen hatte, auf die Parallelen zwischen Mabuse und Hitler verwies, unter anderem als Erklärung dafür, dass die Nazis die Aufführung seines Tonfilm-Sequels "Das Testament des Dr. Mabuse" im Jahre 1933 verhindert hatten. Dass er mit diesem Vergleich nicht ganz so falsch lag, mag man in einem weiteren Zwischentitel erkennen. Wenn Cara Carozza hier über Mabuse sagt: "Wer es ist, das weiß niemand! Er ist da! Er lebt! Er steht über der Stadt – groß wie ein Turm. Er ist die Verdammnis und die Seligkeit! Er ist der größte Mann, der lebt!", so erinnern diese Hyperbeln frappant an die Huldigungen, die in Deutschland wenig später dem realen Verbrecher entgegengebracht wurden.
Fritz Lang drehte 1960 mit "Die 1000 Augen des Dr. Mabuse" eine weitere Fortsetzung, der bald darauf deutlich trashigere Filme anderer Regisseure folgten. Die Figur des Dr. Mabuse war quasi in den Kanon der Edgar-Wallace-Schurken aufgenommen worden. Bemerkenswerter ist da schon Fritz Langs Film "Spione" von 1928, der durchaus wie eine kondensierte Neuverfilmung des Mabuse-Stoffes wirkt. Interessanterweise hatte sich der Stil in den sechs Jahren stark gewandelt, vom (zumindest vordergründigen) Expressionismus zur neuen Sachlichkeit. Aber wie sagt schon Dr. Mabuse selbst: "Expressionismus ist Spielerei... Aber warum auch nicht? Alles ist heute Spielerei!".
Autor: Arndt Pawelczik
Credits
Titel: Dr. Mabuse, der Spieler
Regie: Fritz Lang
Drehbuch: Fritz Lang, Thea von Harbou
Kamera: Carl Hoffmann
Darsteller: Rudolf Klein-Rogge, Aud Egede-Nissen, Gertrude Welcker, Alfred Abel, Bernhard Goetzke, Paul Richter, Robert Forster-Larrinaga, Hans Adalbert Schlettow, Georg John, Julius Falkenstein, Grete Berger, Anita Berber
Produktionsfirma: Uco-Film GmbH Berlin
Produzent: Erich Pommer
Uraufführung: 27. April 1922 im Berliner Ufa-Palast am Zoo
Weitere Informationen zum Film
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Die Nerven liegen blank. Zwei glatzköpfige Männer im besten Alter streiten sich. Da kommt der Kantorowicz-Likör ins Spiel. Ein paar Schlückchen und schon werden aus den Streithähnen beste Freunde, die ihre neue gegenseitige Zuneigung mit kecken Küsschen bekräftigen.
Der Reklamefilm "Das Wunder. Ein Film in Farben" mit der heute skurril wirkenden Handlung ist ein Musterbeispiel für die mitunter gestalterisch herausragenden Werbestreifen der Stummfilmzeit. Erstellt wurde der Film von den Filmpionieren Julius Pinschewer und Walter Ruttmann. Der genaue Uraufführungstermin ist nicht bekannt, sie erfolgte nach der Zensurfreigabe am 09. August 2022.
Der Werbefilmer und Filmproduzent Julius Pinschewer ( 1883-1961) ist eine Schlüsselfigur des frühen deutschen Werbefilms. Er dominierte zur Stummfilmzeit nicht nur die Produktion, sondern auch die Vorführung von Reklamefilmen in den Kinos. Viele seiner Produktionen sind Klassiker der filmischen Werbung und bestechen auch heute noch durch aufwändige Tricktechnik und unterhaltsame Dramaturgie.1932 emigierte Pineschwer aus Deutschland und produzierte fortan in der Schweiz.
Der am 28. Dezember 1887 in Frankfurt am Main geborene Walter Ruttmann, einer der bedeutendsten deutschen Experimentalfilmer, ist heute vor allem wegen seiner Filmhymne "Berlin. Die Sinfonie der Großstadt" (D 1927) bekannt. Das visuell betörende und meisterhaft montierte Stadtportrait gilt als sein Hauptwerk. Sechs Jahre zuvor schrieb Ruttman mit dem zehnminütigen Experimentalfilm "Lichtspiel Opus I" (D 1921) bereits Filmgeschichte. Er war auch an Lotte Reinigers Silhoutten-Trickfilm "Die Abenteuer des Prinzen Achmed" (D 1926) beteiligt, dem ältesten erhaltenen abendfüllenden Animationsfilm der Kinogeschichte. In der Zeit des Nationalsozialismus drehte Ruttmann einige propagadistische Dokumentationen. Er starb am 15. Juli 1941 in Berlin.
Eine Auswahl von Pinschewers Werbefilmen ist auf der von Martin Loiperdinger kuratierten DVD "Julius Pinschewer – Klassiker des Werbefilms" bei absolut Medien erhältlich. Die Musik zu den Filmen steuerte Marie-Luise Bolte bei. Dem Silberling mit insgesamt 170 Minuten Spielzeit liegt ein ausführliches Booklet bei, das alle enthaltenen Filme kurz vorstellt. Die ebenfalls enthaltene Dokumentation "Nitrospektive. Die Restaurierung historischer Werbefilme" (D 2007) gibt einen Einblick in die Bemühungen zum Erhalt früher Reklamefilme.
Autor: Frank Hoyer
Credits
Titel: Das Wunder. Ein Film in Farben
Regie: Julius Pinschewer, Walter Ruttmann
Produktionsfirma: Werbefilm GmbH, Julius Pinschewer (Berlin)
Produzent: Julius Pinschewer
Uraufführung: nach dem 09. August 2022 (Zensurfreigabe)
Weitere Informationen zum Film
Wikipedia Julius Pinschewer
Filmportal "Das Wunder. Ein Film in Farben"
IMDB "Das Wunder. Ein Film in Farben"
DVD "Julius Pinschewer – Klassiker des Werbefilms"
Meisterlich inszeniert und gespielt
Die Handlung spielt in einer nicht näher bezeichneten europäischen Stadt im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts. Im Palast des Gouverneurs (Paul Wegener) findet ein opulenter Ball mit hunderten von Gästen statt. Plötzlich eine Explosion! Eine Revolution ist in der Stadt ausgebrochen und die Aufständischen stürmen den Palast. Ihr Anführer Octavio (Paul Hartmann) trifft hier unvermittelt auf Vanina, die Tochter des Gouverneurs (Asta Nielsen). Für beide ist es Liebe auf den ersten Blick. Als Octavio kurz darauf gefasst wird, erklärt Vanina ihn vor der gesamten Ballgesellschaft kurzerhand zu ihrem Verlobten. Zähneknirschend macht ihr Vater das Spiel mit, unter der Bedingung, dass Octavio die Pläne der Aufständischen verrät. Als er das nach einigem Zögern tut, wird sofort ein Priester (Bernhard Goetzke) bestellt und die Trauungszeremonie vollzogen. Nun aber folgt die Rache des Alten: Noch am gleichen Tag soll Octavio hängen, verkündet er vor den Gästen. "Sie aber sei die Braut eines Gehenkten. [...] So strafe ich, der Gouverneur." Verzweifelt versucht Vanina ihren Geliebten zu retten. Als ihre Überredungskunst ihr nicht hilft, setzt sie auf rohe Gewalt und List.
"Vanina" ist einer von nur zwei Filmen, die der Theaterregisseur Arthur von Gerlach vor seinem frühen Tod inszenierte. Wie 1925 in "Zur Chronik von Grieshuus" schöpft er auch hier aus dem Vollen. Hunderte von Statisten bewegen sich durch aufwendigste Bauten, die die Zeit des Empire lebendig werden lassen. Der Film ergeht sich dabei jedoch nicht in sehnsüchtigem Schwelgen. Sein Sujet ebenso wie das Abtauchen in piranesische Kerker im letzten Akt lassen keine Nostalgie aufkommen.
Lose auf einer literarischen Vorlage von Stendhal basierend bricht "Vanina" entweder gesellschaftliche Konflikte auf die zwischenmenschliche Ebene herunter, oder der Film überhöht einen klassischen Vater-Tochter Streit zu revolutionären Handlungen. Auf jeden Fall steht der Gouverneur hier für das Alte, das sich trotz seiner offensichtlichen Hinfälligkeit beharrlich weigert, der Jugend Platz zu machen. Von Gerlach lässt Paul Wegener sich mühsam auf zwei Krücken stützen, die ihm permanent die Schultern hochdrücken. Sein Gesichtsausdruck wirkt wie in Schmerz und Wut versteinert. Dennoch liefert der große Schauspieler Wegener trotz (oder gerade wegen?) dieser Einschränkungen eine beeindruckende Leistung ab. Asta Nielsen und Paul Hartmann verkörpern hingegen das Neue, dass sich nötigenfalls auch gewaltsam Bahn brechen will. Das Spiel der Nielsen ist wie gewohnt großartig, wenn auch streckenweise etwas zu bühnenhaft expressiv.
Insgesamt wirkt "Vanina" manchmal etwas theaterhaft steif. Bei den Innenaufnahmen werden Immer wieder werden ähnliche, die Symmetrie der Kulissen betonende Perspektiven verwendet. Die Handlung gerät regelmäßig zu einem Kammerspiel zwischen Vater, Tochter und Geliebtem, in dem die hunderte von Statisten nur eine gesichtslose Verschiebemasse bilden. Filmisch hingegen ist die Verwendung von Parallelmontagen, wenn sich Bilder des Balls mit solchen von Straßenkämpfen und der Errichtung des Galgens abwechseln. Immer wieder werden in "Vanina" bewusst solche Kontrase gesetzt: die elegante Kleidung der Ballgesellschaft gegen die Lumpen der Schergen, Vaninas Hochzeitskleid im finsteren Verließ, Die Förmlichkeit des Tanzes gegen die wilde Schießerei auf den Straßen. Der größte Kontrast besteht dabei natürlich in der "Galgenhochzeit" des Titels.
"Vanina" ist großes Kino, ein meisterlich inszenierter und gespielter Film. Einige Szenen bleiben besonders in Erinnerung: die Konfrontation von Vater und Tochter, bei der die Hilflosigkeit des Alten plötzlich erschreckend deutlich wird, Vanina, die ihrem verzweifelten Geliebten im Kerker Mut zuspricht, oder die bizarre Szene, in der der Gouverneur in seiner ganzen verkniffenen Steifheit verständnislos vor dem mannshohen Blumenschmuck für die Hochzeit seiner Tochter steht.
Autor: Arndt Pawelczik
Credits
Titel: Vanina oder Die Galgenhochzeit
Regie: Arthur von Gerlach
Drehbuch: Carl Mayer
Kamera: Willibald Gaebel, Frederik Fuglsang
Darsteller: Asta Nielsen, Paul Wegener, Paul Hartmann, Bernhard Goetzke, Albrecht Viktor Blum, Raoul Lange
Produktionsfirma: Projektions-AG Union (PAGU)
Uraufführung: 06. Oktober 1922 im Berliner U.T. Kurfürstendamm
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Auch heute noch ein optisch attraktives Werk
"Phantom" war seinerzeit eine filmische Großtat. Friedrich Wilhelm Murnau adaptierte hier einen Roman des ebenso angesehen wie populären Schriftstellers Gerhart Hauptmann mit einer Starbesetzung. Das Drehbuch stammte aus der Feder von Thea von Harbou. Die Bauten steuerte der arrivierte Filmarchitekt Herrmann Warm bei und offensichtlich stand ihm dabei ausreichend Geld zur Verfügung.
Der Stadtschreiber Lorenz Lubota (Alfred Abel) lebt mit Bruder Hugo (Hans Heinrich von Twardowski) und Schwester Melanie (Aud Egede-Nissen) bei seiner Mutter (Frida Richard) in ärmlichen Verhältnissen. Lorenz ist ein Träumer und Bücherwurm. Auf dem Weg zur Arbeit erfasst ihn die Kutsche der adligen Melitta (Lya de Putti). Als diese nach dem Verunfallten sieht, verfällt Lorenz ihr sofort und läuft hinter der Kutsche her. Von diesem Moment an verzehrt sich Lorenz nach der Angebeteten. Dabei merkt er nicht, dass Marie (Lil Dagover), die Tochter des Buchbinders Starke (Karl Etlinger), ihn gern mag. Stattdessen bandelt er mit derr leichtlebigen Veronika (Lya de Putti) an, weil sie seiner Melitta so ähnlich sieht. Die nimmt Lorenz aber nach Strich und Faden aus und er muss sich Geld bei seiner Wohlhabenden Tante Schwabe (Grete Berger) leihen. Schließlich läßt er sich von dem Ganoven Wigottschinski (Anton Edthofer) in einen Raubüberfall auf die Tante hineinziehen und kommt ins Gefängnis. Aber die Zuschauer wissen bereits aus der Rahmenhandlung, dass bei seiner Freilassung die treue Marie auf ihn wartet.
Das ist tatsächlich eine stark gekürzte Zusammenfassung der sehr verwickelten Handlung. Der Film leidet aber nicht nur unter Weitschweifigkeit. Ein weiteres Problem ist eine merkwürdige Widersprüchlichkeit im Setting. Zentrale Elemente scheinen im Biedermeier angesiedelt zu sein: der hagere Lubota, der schlechte Gedichte schreibt, erinnert an Spitzwegs armen Poeten. Marie und ihr Vater wirken in Frisur und Kleidung ebenso dieser Welt entsprungen wie und die deutsche Kleinstadt, in der die Handlung spielt.
Dem stehen aber Charaktere und Settings gegenüber, die uns deutlich in die Entstehungszeit des Films verweisen. Aud Egede Nissen als Schwester Melanie wirkt hier nicht anders als in ihrer Rolle als Cara Carozza in "Dr Mabuse", aus dem auch die Tanzcafés und Weinlokale in "Phantom" stammen könnten. Veronika und Wigottschinski kleiden sich im letzten Chic der 20er Jahre. Ähnlich wie in "Metropolis", einem utopischen Film mit Elementen der deutschen Romantik, vermengt Thea von Harbous Drehbuch hier zwei ganz unterschiedliche Welten, als rängen die heile Welt der Vergangenheit und die verderbte Moderne um die Seele des armen Lubota. Bzeichnenderweise haben Lubota und Marie am Ende die Stadt mit ihren Gefahren hinter sich gelassen und leben in ländlicher Idylle.
Das größte Problem von "Phantom" ist allerdings die Besetzung der Hauptrolle mit Alfred Abel. Dieser ausgezeichnete Schauspieler mag sich noch soviel Mühe geben, er ist ganz offensichtlich viel zu alt für die Rolle. Man nimmt ihm den jugendlichen Schwärmer einfach nicht ab, er wirkt eher senil. Und dabei hätte man mit Hans Heinrich von Twardowski eine hervorragende Besetzung für die Rolle des Lorenz Lubota im Ensemble gehabt. Den läßt man aber nur ab und zu im Nachthemd über die Szene huschen.
Die Handlung und die Besetzung mögen also nicht mehr zu überzeugen, dennoch ist "Phantom" auch heute noch ein optisch attraktiver Film, mit großartigen Bauten und starker Bildregie. Und für Stummfilmfreund*innen ohnehin ein Pflichtprogramm.
Autor: Arndt Pawelczik
Credits
Titel: Phantom
Regie: Friedrich Wilhelm Murnau
Drehbuch: Thea von Harbou, Hans Heinrich von Twardowski
Kamera: Axel Graatkjær, Theophan Ouchakoff
Darsteller: Alfred Abel, Frida Richard, Aud Egede-Nissen, Hans Heinrich von Twardowski, Karl Etlinger, Lil Dagover, Grete Berger, Anton Edthofer, Ilka Grüning, Lya de Putti, Adolf Klein, Olga Engl, Heinrich Witte
Produktionsfirma: Uco-Film GmbH Berlin
Produzent: Erich Pommer
Uraufführung: 13. November 1922 im Berliner Ufa-Palast am Zoo
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Ein Monumentalfilm mit humanistischem Wertekompass
Mit der Großfilmproduktion "Nathan der Weise" wagte sich die Bavaria Film 1922 an eines der großen Dramen der Literaturgeschichte. Das dem Humanismus und der universellen Idee von der Gleichheit aller Menschen verpflichtete Werk von Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) erschien 1779. Lessing, einer der prägenden Dichter der Aufklärung, arbeitete über Jahrzehnte an seinem „dramatischen Gedicht“. Die szenische Uraufführung seines Werkes am 14. April 1783 in Berlin erlebte der Literat nicht mehr.
Jerusalem im 12. Jahrhundert: Die monotheistischen Religionen Christentum, Islam und Judentum tragen auf heiligem Boden schwere Konflikte aus, die Zeit der Kreuzzüge. Dem Juden Nathan fällt die Rolle zu, hier zu vermitteln und für Mitmenschlichkeit und Toleranz zu werben, auch mit dem persönlichen Risiko, sein Leben zu verlieren. Mit seinem klaren Wertekompass beeindruckt er Freund und Feind und trägt zum gegenseitigen Verständnis bei.
Die in München ansässige Bavaria Film des Filmproduzenten Erich Wagowski, eine von mehreren im Kinobereich tätigenTochterfirmen der "Emelka" (Konzern Münchner Lichtspielkunst), wollte mit aufwändigen und publikumswirksamen Kinowerken dem Berliner Ufa-Konzern, der überwiegend in Berlin produzierte und die deutsche Filmwirtschaft dominierte, Paroli bieten. Die Wahl fiel auf Lessings berühmtes Drama, das von Hans Kyser in ein Drehbuch mit vielen schauwertreichen Szenen umgearbeitet wurde. Es ist zu vermuten, das es dem jüdisch gläubigen Erich Wagowski in Zeiten eines gerade auch in München massiv erstarkenden Antisemitismus ein Anliegen war, dem Publikum mit der Lessing-Verfilmung nicht nur packende Unterhaltung zu bieten, sondern auch aufklärerisch zu wirken: "Der Film der Humanität" pries die Kinowerbung "Nathan der Weise" an.
Mit der Regie wurde der nicht einmal 30 Jahre alte Manfred Noa beauftragt, der bereits seit 1915 als Filmarchitekt und ab 1916 auch als Regisseur tätig war, und mit Werner Krauß und Carl de Vogt konnten für die Hauptrollen zwei etablierte Mimen des Weimarer Kinos verpflichtet werden. Auch die weiteren Rollen wurden mit bewährten Darsteller*innen besetzt, etwa mit der unverwüstlichen Margarete Kupfer, dem hageren Max Schreck (kurz nach seinem Einsatz als "Nosferatu") und dem in den 1920er Jahren vielbeschäftigten Fritz Greiner.
Noch heute beeindruckt an "Nathan der Weise" der unbedingte Gestaltungswille seiner Macher*innen: Jede Einstellung ist visuell durchkomponiert und zielt auf optischen und dramaturgischen Effekt. Die beeindruckenden Filmsets rahmen die Spielszenen und verleihen der Produktion einen edlen Touch. Dabei bieten die vielen unterschiedlichen Texturen, von Wandbemalungen bis hin zu Fenstergittern, Vorhängen und variationsreichen Steinoberflächen jede Menge Augenfutter und Abwechslung für die Zuschauer*innen.
Zu den bemerkenswertesten Sequenzen des Films gehört die Umsetzung der Ringparabel-Szene, in Lessings Drama eine Schlüsselszene: Die Einstellungen in Noas Kinowerk sind wie ein Schattentheater inszeniert und erinnern heutige Zuschauer*innen an Lotte Reinigers Silhouettenfilme. Die Reduzierung auf schwarze und weiße Bildelemente steht in einem deutlichen Kontrast zu den nuancierten, abgestuften Grauwerten des restlichen Films und geben der Szene etwas Abstraktes, geradezu Avantgardistisches.
Die Uraufführung von "Nathan der Weise" fand am 29. Dezember 1922 im Berliner Kino Alhambra statt, in München konnte der Film wegen Gewaltandrohungen von rechtsradikalen Gruppierungen nur eingeschränkt gezeigt werden. Lange Zeit verschwand er aus dem öffentlichen und filmhistorischen Bewusstsein und galt als verschollen. In den 1990er-Jahren wurde dann im staatlichen russischen Filmarchiv in Moskau ein nahezu vollständige Kopie entdeckt, die Grundlage für eine aufwändige Restaurierung durch das Filmmuseum München war. 2006 erschien "Nathan der Weise" dann in einer nach den Konventionen der Zeit vorgenommenen Einfärbung in der Reihe „Edition Filmmuseum“ mit zwei Musikbegleitungen: Zum einen eine Komposition von Aljoscha Zimmermann, aufgeführt von Sabrina Hausmann (Violine) und Mark Pogolski (Flügel), zum anderen eine improvisierte Klavierbegleitung von Joachim Bärenz. Schließlich wurde Noas Film 2010 auf ARTE ausgestrahlt und so einem breiten Publikum wieder zugänglich gemacht.
Nach „Nathan der Weise“ drehte Regisseur Manfred Noa mit dem Zweiteiler "Helena" (D 1924) anschließend noch einen Ausstattungsfilm für die Bavaria, erneut nach einem Drehbuch von Hans Kyser. Ein Streifen, der in seiner Monumentalität und Ambitioniertheit „Nathan der Weise“ noch überflügelt. Nach zwei Dutzend weiteren Filmen starb das 1894 geborene Regietalent bereits 1930.
"Ihr Völker duldet Euch! Ihr Menschen verschiedener Religionen, Sitten und Meinungen, helft und vertragt Euch! - Seid Menschen!" wirbt der letzte Zwischentitel in "Nathan der Weise". Er hat nichts an Aktualität verloren.
Autor: Frank Hoyer
Credits
Titel: Nathan der Weise
Regie: Manfred Noa
Drehbuch: Hans Kyser
Kamera: Gustave Preiss, Hans Karl Gottschalk
Darsteller: Werner Krauß, Carl de Vogt, Fritz Greiner, Lia Eibenschütz, Ferdinand Martini, Max Schreck, Bella Muzsnay, Margarete Kupfer, Wolfgang von Schwind, Ernst Schrumpf, Rudolf Lettinger
Produktionsfirma: Filmhaus Bavaria GmbH
Produzent: Erich Wagowski
Uraufführung: 29. Dezember 1922 im Berliner Alhambra
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