Nina Goslar über die Welturaufführung der rekonstruierten Fassung von "La Roue"

Im Konzerthaus Berlin findet am Samstag, den 14. September 2019, von 14:00 bis 23:00 Uhr die Premiere der rekonstruierten Film- und Musikfassung von "La Roue" (F 1923) statt. 
 

Mit "La Roue" schuf der französische Regisseur Abel Gance (1889–1981) eine große Familiensaga, die Motive des antiken Ödipus- und Sisyphos-Stoffes verarbeitet und als moderne Tragödie mit den Stilmitteln des Kinos erzählt. Konzipiert als Serial mit einer Gesamtdauer von 8,5 Stunden, wurde der Film nach seiner Premiere im Wochenrhythmus aufgeführt, dann aber sukzessive für den Filmmarkt gekürzt. Ein Teil des Filmmaterials ging verloren.

Als deutsch-französisches Kooperationsprojekt der Fondation Jérôme Seydoux-Pathé und ZDF/ARTE wurde "La Roue" nun mit seiner Originalmusik rekonstruiert. Seit der Stummfilmzeit war diese, die längste Filmmusik der Kinogeschichte, nicht mehr zu hören. Am 14. September 2019 wird Dirigent Frank Strobel zusammen mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin die Musik erstmals wieder zur Aufführung bringen. Die zweite Sensation des Projekts ist die digital restaurierte Filmkopie, die zum Teil vom Originalnegativ gezogen wurde. Die neue Fassung hat eine Gesamtlänge von sieben Stunden.

Stummfilm Magazin hat sich mit Nina Goslar, der bei ZDF/ARTE für das Stummfilm-Programm zuständigen Redakteurin, über das ambitionierte Projekt unterhalten.

{slider Interview mit Nina Goslar}

Welche Bedeutung hat Abel Gance aus filmhistorischer Sicht?

Wenn ich mal eine persönliche These wagen darf, so würde ich sagen: Abel Gance steht genau auf der Schwelle zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert. Er nimmt ein stupendes kulturhistorisches Wissen aus der vor-filmischen Zeit mit und träumt von einem Kino als universaler Kunstform, die all diese Künste in sich vereint: Literatur, Tanz, Malerei, Musik. Seinen gestalthaften Kunstbegriff möchte man eher mit Jugendstil in Verbindung bringt als mit der Moderne. Damit meine ich die Moderne der Avantgardisten, die aus der Destruktion ihre Impulse zogen. Gleichwohl hat Abel Gance ein vitales Interesse an der Moderne und an zeitgenössischer Technik. Er experimentierte mit Aufnahmeverfahren und Filmmaterialien, um damit ein großes synästhetisches Erlebnis zu produzieren, quasi ein immersives Kino aller Sinne.

Er selbst sagte einmal: "Wir sind nur wenige, die auf Wolkenpferden voranreiten, und wenn wir ringen, dann mit der Wirklichkeit, um sie zu zwingen, Traum zu werden. Die Wünschelrute steckt in jedem Aufnahmeapparat, und das Auge von Merlin, dem Zauberer, hat sich in ein Objektiv verwandelt. Die Realität kopieren? Wozu soll das gut sein?"

Welchen Einfluss hatte "La Roue" auf andere Filmschaffende?

Man muss sich nur einmal Eisensteins "Oktober" (UdSSR 1928) mit seinen subliminalen Filmbildern anschauen, dann ahnt man schon, wo das herkommt. Genau das gleiche Staccato findet man bei "La Roue", wenn Sisif auf einen Prellbock zurast. Abel Gance steht in einer Reihe mit Regisseuren wie Dreyer, Murnau oder Erich von Stroheim, ohne sie ist das Kino undenkbar.

Können Sie uns einen Einblick in die Projektkoordination und die Finanzierung der Rekonstruierungsmaßnahmen geben?

Ich fürchte, die Details der Finanzierung sind nicht sehr sexy, aber wichtig ist, dass hier öffentliches Geld nachhaltig eingesetzt wird. Denn wenn wir einen Film fürs ARTE Programm übernehmen, kommt ein Teil des Lizenzbetrags der Restaurierung des Films zugute, das ist unsere Bedingung. Sodann produzieren wir neue Musikfassungen, die wir den Lizenzpartnern oder Archiven für die weitere Auswertung zur Verfügung stellen, damit entlasten wir die Etats der Partner.

Was nun die Projektkoordination betrifft, so ist eine Redaktion immer Schnittstelle für die verschiedenen Gewerke, die bei Stummfilm-Produktionen zusammenarbeiten. Das bedeutet nicht nur eine organisatorische Koordination, sondern auch eine inhaltliche Begleitung und zum Beispiel Bereitstellung vieler Referenzmaterialien für die Musiker, egal ob es sich ob Neukomposition oder Musikrekonstruktion handelt. Kritisch ist oft das Timing. Die Archive brauchen manchmal länger für eine Restaurierung, aber die Musiker müssen auch mit ihrer Arbeit beginnen. Diese Welten harmonieren nicht von allein.

Ist eine Veröffentlichung der neuen Fassung von "La Roue" auf DVD/Blu-ray geplant?

Pathé international plant eine Doppel-Edition als DVD und Blu-ray.

Stummfilme sind eher ein Nischenthema, viele Menschen fühlen sich von der speziellen Ästhetik nicht (mehr) angesprochen. Sehen Sie Möglichkeiten, mehr Menschen für das "Genré" Stummfilm zu begeistern?

Auch wenn sich vielleicht nicht viele Menschen von Stummfilmen angesprochen fühlen, so doch einige - nämlich diejenigen, die gute Filme schätzen, und auf die kommt es an. Den Wert einer Lyrik-Edition kann man ja auch nicht daran bemessen, ob sie die gleichen Verkaufszahlen wie ein Thriller hat. Stummfilme sind eben nicht endlos reproduzierbar und können auf dem Handy nur schlecht ihre Wirkung entfalten, das schränkt ihre "Massen-Akzeptanz" zusätzlich ein.

Ich finde, es wird in der Kino-Szene viel für den Stummfilm gemacht. Überall, wo konstant Stummfilme angeboten werden, baut sich ein treues Publikum auf. Wir haben uns als ARTE-Verbund auf das konzentriert, was wir am besten an den Start bringen können. Nämlich Kooperationen mit Orchestern und Ensembles einzugehen, um große Aufführungen zu machen. Die wären auf dem freien Musikmarkt kaum zu finanzieren, aber durch unsere Kooperationen, insbesondere mit den ARD-Orchestern, sind Filmevents möglich, die immer gut besucht sind. Beide Seiten profitieren davon, denn auch die Orchester wollen sich ein Publikum außerhalb der Abonnenten erschließen.

Auf welche ARTE/ZDF-Projekte können sich Stummfilmfreund*innen in nächster Zukunft freuen?

Das große Highlight im nächsten Jahr ist die aktuelle Restaurierung von "Das Wachsfiguren-Kabinett" (D 1923) von Paul Leni; dieser Film stand schon lange auf meiner Wunschliste, nun hat die Deutsche Kinemathek ihn so schön restauriert, dass man die artifizielle Filmarchitektur und Ausstattung erst richtig erkennt, die diesen Film so interessant macht. Weiterhin kann man sich auf den "Beethoven"-Film (D 1927) mit Fritz Kortner freuen, den wir auch in Eisenach und Gotha live präsentieren wollen. Im August sind wir wieder bei den UFA Filmnächten und haben für Herbst 2020 einen coolen Chicago-Film mit dem WDR Jazz-Orchester in der Mache …

Das sind ja großartige Aussichten! Vielen Dank für das Gespräch und weiterhin viel Erfolg für Ihre Arbeit.

Ein ausführliches Dossier zum Film, der Musik und der Welturaufführung findet man hier auf Stummfilm Magazin. Eine Fernsehübertragung findet am 28. Oktober 2019 und 04. November 2019 auf Arte statt. Die französische Erstaufführung ist im Auditorium Lyon am 19. und 20. Oktober 2019 im Rahmen des Festival Lumière.

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Mit Textmaterial der Medieninformationen von Fondation Jérôme Seydoux-Pathé, ZDF/ARTE, Deutschlandfunk Kultur, RundfunkSinfonieorchester Berlin; Bild: Stummfilm Magazin/Frank Hoyer

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