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Neukomposition für Fritz-Lang-Klassiker: musikalisches Lebenselixier für den "Müden Tod"

Die Weimarer Stummfilm-Retrospektive hat auch 2021 wieder sein Publikum begeistert und den Facettenreichtum der aktuellen Stummfilmkultur eindrücklich demonstriert.

Höhepunkt des Festivals war am 04. September 2021 die Uraufführung der Orchester-Komposition zu "Der müde Tod" von Richard Siedhoff, Preisträger des Deutschen Stummfilmpreises 2020. Gleich an zwei Terminen hintereinander spielte die Staatskapelle Weimar im Großen Haus des Deutschen Nationaltheaters unter der Leitung des renommierten Stummfilm-Dirigenten Burkhard Götze die Neukomposition von 2021 live zum Film von 1921.

Die Musik schmiegte sich bereits bei den ersten erklingenden Tönen wie eine zweite Haut an Fritz Langs frühes Meisterwerk an, gerade so, als ob sie vom eigenwilligen Regisseur höchstselbst beauftragt worden wäre. Die vom Komponisten gewählte Tonsprache war in seiner Grundstruktur den Gepflogenheiten der Entstehungszeit des Films verpflichtet und griff großzügig auf die Stilelemente der Spätromantik zurück. Doch plötzlich erklangen auch etwas an Gershwin erinnernde Swing-Elemente und dann etwas Modernes. Und so war die Musik für die Zuhörer*innen immer wieder überraschend und abwechslungsreich.

Dabei hat Siedhoff mit seiner Komposition etwas geschafft, was bei diesem narrativ kompliziertem Film oft übersehen wird: ihn dramaturgisch zusammenzuhalten, ohne die Details und völlig unterschiedlichen Schauplätze – Orient, Venedig, China und altdeutsche Kleinstadt – aus den Augen zu verlieren. Die Struktur um die Leitmotive der Musik machen deutlich, hier ist jemand intensiv in den Film und dessen Struktur eingetaucht, nichts erscheint beliebig. Die Komposition ist stimmungsvoll ausmalend, aber niemals verspielter Selbstzweck. Sie tariert die Balance zwischen mitreißender musikalischer Eigenständigkeit und wirkungsvoller Gebrauchsmusik effektvoll aus und bietet zudem zahlreiche herrliche Ohrwürmer. Ein Hinweis des Komponisten im Programmheft legt nahe, dass er sich bei der Arbeit am "Müden Tod" an der Kompositionsweise Hans Landsbergers orientierte, dessen Originalmusik zum Stummfilm "Der Golem, wie er in die Welt kam" (D 1920) er rekonstruierte.

Siedhoff selbst hielt vor den Aufführungen einführende Worte zum Film. Er brachte dem Konzertpublikum die Bedeutung des Kinoklassikers nahe und erläuterte, warum dieser trotz der Digitalisierung heute leider nicht mehr so gut aussieht wie zur Entstehungszeit. Es sei ihm ein Anliegen gewesen, die visuellen Defizite, die die Zeit in das Material geschrieben habe, musikalisch auszugleichen. Und er fügte hinzu: „Filmmusik, gerade Stummfilmmusik, muss dem Film dienen, also habe ich komponiert, was der Film mir diktiert hat“. Er entwickle seine musikalischen Ideen aus den Bildern heraus. Dass er anachronistisch, also nicht wirklich modern komponiere, sei ihm bewusst. Und er merkte nicht ohne Ironie an: „Meine Musik ist sicher kein Werk, mit dem man heutzutage Preise gewinnen kann, aber dafür ist es schöne Musik“. Das Publikum reagierte auf die Äußerung mit Heiterkeit.

Die Rechnung ging auf: Was die Premierengäste da erlebten, war ein anderer Fritz-Lang- Film als bisher so oft gesehen. Geschlossener und runder und vor allem emotionaler. Freilich zeigte Siedhoffs Musik wenig Zurückhaltung, wollte ganz mit dem Film verschmelzen und das Publikum an die Hand nehmen, geradezu überwältigen. Für manche Zuschauer*innen mögen die Bilder zuweilen etwas von der Musik erdrückt gewirkt haben, für andere offenbarte der Klangrausch vielleicht gerade deren Gehalt ... und kam so auch der Auffführungspraxis der Stummfilmzeit sehr nahe.

Aber zurückhaltend war die Komposition dann doch plötzlich: Im Herzstück des Films, der venezianischen Episode, durfte das Orchester sich zurücklehnen und übergab die musikalische Führung über weite Strecken Cello, Harfe und Klavier, während die orientalische Episode mit allerlei "Full-Sound-Effekten" und viel Perkussion aufwartete. In der Episode am chinesischen Kaiserhof parodierte Lang auch die klischeehaften Sichtweisen der kolonialistisch geprägten Entstehungszeit des Films. Hier kam dank der Musik etwas zu tragen, was man in einem Lang-Film sonst nur selten findet: Ironie und Scherz. Siedhoff gelang es hier, den Film zur Komödie zu transferieren – mit Gershwin-Anleihen und Swing-Elementen. Doch dann schloss er geschickt wieder den Bogen hin zum Drama. Und wer nun davon ausging, hier fände man endlich das Happy End, für den wurde der Schock umso größer: Mit einem breiten Tremolo und Crescendo wurde der letzte totbringende Pfeilschuss des kaiserlichen Schützen vorbereitet – und traf mitten ins Herz; nicht nur ins Herz des Protagonisten, der hier das vierte Mal im Film sein Leben geben musste, sondern auch in das des Publikums.

Burkhard Götze, am Dirigentenpult mittlerweile so etwas wie das kongeniale, passgenaue Pendant zu Stummfilmmusiker Richard Siedhoff, führte die begeisternd aufspielende Staatskapelle Weimar punktgenau durch die vielen effektreichen Szenen: ein plötzlicher Szenenwechsel, ein Sprung ins Wasser, ein Beckenschlag zum Aufreißen eines Vorhangs, da ein Tanz und plötzlich eine Liebesszene und dort ein Pfeilschuss – alles saß treffsicher. Auch als die Musik beim finalen Höhepunkt des Films, einem lodernden Hausbrand voller Dramatik, willkürlich und eigenständig schien, kam der Ruf des hornblasenden Nachtwächters "just-in-time". Götze leitete die Staatskapelle mit sicherer Hand, keinen Augenblick kam der Verdacht auf, die abwechslungsreiche Musik würde davoneilen oder hinterherhinken, alles ging Hand in Hand. Das ist auch der Routine und Flexibilität der seit bald 20 Jahren Stummfilmkonzert erprobten Staatskapelle zu verdanken. Das Weimarer Orchester gab einen klaren und starken Klang, obwohl es aufgrund von Corona nur in einer Besetzung von etwa 25 Musiker*innen spielen konnte.

So emotional, wie Siedhoff den Film in ein musikalisches Gewand hüllte, konnte man den "müden Tod" bisher selten erleben: Die letzte Episode, wieder in der Film-Jetztzeit spielend, krönt Langs Film. Nachdem die letzten zarten Klängen des Orchesters verstummten, Dirigent Götze den Taktstock senkte und einige lange Sekunden anhaltende, ehrfürchtige Stille den Saal in Spannung hielt, durchbrach geradezu frenetischer Applaus mit "Bravo"-Rufen die Stille. Der Abend bewies: Auch heute kann Stummfilmmusik noch Oper sein, darf noch berühren und das Publikum an die Hand nehmen. Es muss nicht immer abstrakt sein, Kunst darf auch direkt ins Herz gehen. So manchem Zuschauer lief eine Träne herunter, als Lil Dagover am Ende ihr Leben opfern musste. Da haben Fritz Lang und Richard Siedhoff gut zusammengearbeitet.

Der Neukomposition sind noch viele weitere Vorführungen zu wünschen, denn eine bessere Werbung für eine lebendige Stummfilmkultur heutzutage kann man sich kaum wünschen.

Die dritte Ausgabe der jährlich stattfindenden Weimarer Stummfilmretrospektive rückte – wie auch schon zuvor – Stummfilme, die vor hundert Jahren die Weimarer Kinospielpläne bestimmten, in den Mittelpunkt. Über ein Dutzend frühe Werke, in der Mehrzahl eher selten auf dem Programm stehende Stummfilmraritäten, wurden von international renommierten Stummfilmmusiker*innen im Lichthaus Kino Weimar live musikalisch begleitet. Zahlreiche Expert*inneneinführungen ermöglichten Einblicke in eine der spannendsten Phasen der internationalen Kinogeschichte. Die Filmschau fand von 29. August bis 08. September 2021 im Rahmen des Kunstfest Weimar statt. Weitere Infos zur III. Weimarer Stummfilm- Retrospektive

Der expressionistische, bildgewaltige Episodenfilm von Fritz Lang mit dem Untertitel "Ein Volkslied in sechs Versen" kam am 06. Oktober 1921 auf die Leinwand. Die Originalmusik von Giuseppe Becce ist verschollen. Das aufwändig inszenierte, märchenhafte Drama erzählt in drei exotischen Episoden und einer Rahmenhandlung vom Ringen einer Jungvermählten mit dem zu Fleisch gewordenen Tod um das Leben ihres Brätigams. Autor Arndt Pawelczik stellt im Rahmen der Stummfilm Magazin-Initiative 100 Jahre Stummfilm- Klassiker der Weimarer Republik "Der müde Tod" vor. zur Filmbesprechung
Text: Frank Hoyer; Grafik: Stummfilm Magazin ; Fotos: Markus Lippmann, Thomas Müller, Josephine Klawonn