Interview: Richard Siedhoff über die Musikrekonstruktion zu "Golem"

Die Originalmusik von Paul Wegeners Stummfilmklassiker "Der Golem, wie er in die Welt kam" (D 1920) galt über Jahrzehnte als verschollen.

2018 entdeckte der Stummfilmmusiker Richard Siedhoff die Musik wieder – jedoch nicht ganz vollständig. Im Rahmen des Kunstfestes Weimar 2020 und der Stummfilmretrospektive "Überreizung der Phantasie" war der Film nun endlich wieder mit seiner Originalmusik zu hören. Stummfilm Magazin sprach mit Richard Siedhoff über seinen Sensationsfund und die Rekonstruktion der Musik.

Wie kam es zum Fund von weiten Teilen der Originalpartitur von Hans Landsbergers Soundtrack zu Wegeners 1920er-Golem-Verfilmung?

Im Sommer 2017 stellte Stefan Drößler bei den Internationalen Stummfilmtagen in Bonn die Restaurierungarbeiten am "Golem"-Film vor. Dabei kam selbstverständlich auch die Landsberger-Musik zur Sprache. Von dieser kannte man bis dahin nur acht Leitmotive, die die Zeitschrift "Filmkurier" 1920 in einer "Themen-Tabelle" abgedruckt hatte. Man fragte mich, ob ich daraus eine der Originalmusik verpflichtete Komposition entwickeln könnte. Das wäre jedoch ungefähr so erfolgversprechend gewesen, als würde man einen Film anhand von acht Standfotos rekonstruieren.

Also machte ich mich auf die erneute Suche nach der Musik – vor einigen Jahren hatte ich schon einmal engagiert danach gesucht – und wurde Anfang 2018 fündig. In einem Archiv entdeckte ich die Klavierdirektion mit einigen Stimmenfragmenten. Ich war völlig baff – das gute Stück war anscheinend nur nie katalogisiert worden. Leider ist die Klavierdirektion sehr nachlässig gearbeitet: Voll von Fehlern und über weite Strecken ist nur die Klavierbegleitung der Salonorchesterfassung abgedruckt. Kurzum: Es fehlen hin und wieder wichtige Themen und Melodien.

Welchem musikalischem Genré lässt sich die Musik von Hans Landsberger zuzuordnen? Und welche musikalische Konzeption hatte der Komponist für den "Soundtrack"?

Landsberger steht ganz in der Tonsprache seiner Zeit. Die Musik ist durchweg spätromantisch, jedoch an vielen Stellen sehr eigenwillig in der Harmonik und den Effekten. Sie bewegt sich auf ausgesprochen hohem musikalischen Niveau und streift dabei gerne hin und wieder die Moderne. Es gibt Passagen, die erinnern stark an Wagner, dann an Brahms, dann kommt eine parodistische Gavotte und überschwängliche Liebesszenen. Die Golem-Figur selbst wird martialisch begleitet, mit stampfenden Tritonus und Wechselbass. Also eindeutig etwas für die Pauke, um das Stampfen des Koloss zu untermalen.

Inwiefern sticht die Musik aus den anderen bekannten Stummfilmmusiken hervor? Was war aus Sicht der Entstehungszeit daran neu? Oder anders formuliert: Hat Landsberger vielleicht Filmmusikgeschichte geschrieben?

Auf jeden Fall. Ich würde die Musik als "Missing Link" der – zumindest – deutschen Filmmusikgeschichte bezeichnen. Vor Landsberger waren Originalmusiken wesentlich sinfonischer, also großflächiger angelegt. Landsberger macht etwas völlig Neues: Er verwendet Leitmotive auf engstem Raum, bricht die sinfonischen Strukturen und vertont den Film szenenweise. Fast jeder Szenenwechsel, sogar fast jeder Bildwechsel geht mit einem Musikwechsel einher. Landsberger passt die Musik konsequent dem Filmbild an. Er spart dabei nicht mit Effekten wie punktgenauen "Explosionen", den "Marschschritten" des Golem oder musikalischen "Schockeffekten" wie Orchester-Tutti-Schlägen, wenn beispielsweise das "Dekret wieder die Juden" ins Bild kommt. Die Musik ist überaus effektreich und daher auch extrem schwer zu dirigieren. Ich konnte für die Uraufführung im September 2020 in Weimar den Dirigenten Burkhard Götze gewinnen, der diese schwierige Aufgabe meisterhaft gelöst hat.

Wie kann man sich die Rekonstruktion der Musik vorstellen? Wie war Ihre Herangehensweise?

Zunächst musste die Musik mit dem Film synchronisiert werden. Das war vor allem am Anfang kein Problem, da hier viele sehr genaue Synchronangaben in der Klavierdirektion stehen. Davon werden es aber im Verlauf immer weniger. Da die Komposition mit nahezu unzähligen Tempoänderungen gespickt ist, die meist nur mit "schneller", "ganz schnell", "wieder langsamer" oder "schwer" gekennzeichnet sind, musste ich mich sehr stark einfühlen, um herauszubekommen, welche Musik an welche Stelle im Film hingehört. Dabei half die Leitmotivstruktur ungemein.

Dann stellte sich jedoch heraus, dass ab dem zweiten Akt immer mehr Passagen auftreten, in denen nur die "Klavierbegleitung", aber eben nicht die wichtigen Motive und Melodien abgebildet sind. Ich kombinierte deshalb, welche Motive auf welche Begleitung in welcher Variation passen. Und schließlich ging alles sehr gut auf, auch wenn ich an manchen Stellen tatsächlich etwas zu Ende komponieren musste – dort, wo nur die harmonisch-rhythmische Strukturen erhalten waren.Schließlich ließ sich davon ausgehend auch die Montage des Films weitestgehend bestätigen und an manchen Stellen sogar korrigieren.

Am Ende stand dann die wichtigsten Aufgabe: Die Musik wieder zu orchestrieren, also für Orchester aufzuschreiben. Ähnlich wie mit den Synchronpunkten, enthällt die Klavierdirektion auch viele Hinweise auf den Einsatz von Instrumenten, jedoch lassen auch diese Hinweise im Verlauf immer mehr nach. So ist etwa 70% der Instrumentierung von mir – selbstverständlich unter Berücksichtigung aller Hinweise, derer ich habhaft werden konnte. Auch Zeitungskritiken von 1920 waren da hilfreich. Da ist etwa von "opernhaften Klängen" bei der "eigenartigen Besetzung von Kinoorchestern" die Rede, von "Theatereffekten" und kühner, eigenwilliger Instrumentierung. Auch Landsbergers Lehrer werden in manchen Quellen genannt, was Hinweise auf kompositorische Techniken liefert.

Der Golem wurde bereits mehrfach restauriert. Wie unterscheidet sich die aktuelle Münchner Fassung von den früheren Rekonstruktionen?

Die alte Münchner Fassung, die in den 1980ern von dem bekannten Filmhistoriker Enno Patalas hergestellt wurde, war die Vorlage für die erste Farbversion von 1995. Diese Version litt leider an starker Überbelichtung, grellen Farben und einem beschnittenem Bild. Deshalb wollte das Filmmuseum München schon 2012 den Film anhand des Ausgangsmaterials neu digitalisieren. Zwischen 2015 und 2020 fanden sich dann noch weitere, optisch deutlich bessere Materialien. Hier sind vor allem eine italienische Kopie, die 1995 nur als Farbvorlage genutzt wurde, und das Originalnegativ, verwahrt in Brüssel, zu nennen.

In diesem Zusammenhang ist hilfreich zu wissen: Während der Stummfilmzeit wurden bei aufwändigen Produktionen oftmals zwei oder mehr Kameranegative angefertigt, da von einem Otiginalnegativ nur eine begrenzte Anzahl guter Kopien gezogen werden konnte. Erstaunlicherweise zeigte sich, dass das belgische "Golem"-Negativ das A-Negativ war und alle anderen Kopien vom verlorenen B-Negativ abstammen. Leider ist das originale A-Negativ verstümmelt: Viele Szenen fehlen und fast jede zweite Einstellung wurde gekürzt. Die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung hat 2018 eine sehr schöne Restaurierung des A-Negativs vorgenommen, aber dabei diese Kürzungen in Kauf genommen. Das sieht optisch brillant aus, passt aber wegen des völlig anderen Timings nicht mehr zur Musik. Nun hat das Filmmuseum München den Film auf Vollständigkeit hin rekonstruiert und das A-Negativ mit Material der Kopien vom B-Negativ ergänzt. So haben wir den FIlm nun wieder in seiner vollen Länge und die Musik passt wieder dazu. Immerhin sind es jetzt 91 Minuten bei 18 Bildern je Sekunde. Da die Hauptquelle des B-Materials die italienische Kopie ist, die in erster Generation vom B-Negativ abstammt, ist auch hier die Bildqualität durchweg bestechend.

Ist das Gesamtkunstwerk "Golem" nun wieder vollständig hergestellt? Oder gibt es noch Fragen und Rätsel?

Im Wesentlichen ist das Gesamtkunstwerk "Golem" nun nach 100 Jahren wiederhergestellt und in einer integralen Fassung aufführbar. Dennoch sind nicht alle Rätsel gelöst. Das dritte "Kapitel" beispielsweise hat überraschend detailreiche musikalische Abschnitte, die im Bild keine direkte Entsprechung haben. Etwa bei der Szene am Kaiserhof stehen irreführende Synchronangaben in der Klavierdirektion, die im Film keine direktes Pendant haben. So liegt die Vermutung nahe, dass der Film hier vielleicht nach Fertigstellung der Musik umgeschnitten wurde. Eine andere Stelle betrifft die "Liebesszene auf der Bank" zwischen Mirjam und Florian: Hier waren einige Takte "zu viel", da die Szene in allen Fassungen kürzer ist als die Musik. Ansonsten mussten aber lediglich an einer anderen Stelle Takte gestrichen werden – insgesamt nur 17.

Somit sind Film und Musik einer der wenigen Glücksfälle aus der Frühzeit des Kinos, bei denen beides in nahezu voller Länge erhalten ist. Der rekonstruierte "Golem" dokumentiert für heutige Generationen, wie lebendig und kreativ die frühe Zeit der Filmmusik war, als sie noch Kinomusik und damit auch Konzertmusik war."

Vielen Dank für die spannenden Einblicke in Ihre Arbeit und weiterhin viel Erfolg!

Das Interview führte Frank Hoyer.

Linktipps:
♦ Einen Nachbericht zur Uraufführung der rekonstruierten Golem-Musik ist hier auf Stummfilm Magazin veröffentlicht. 
♦ Richard Siedhoff findet man im Internet unter www.richard-siedhoff.de.
♦ Die Musik wird verlegt von Ries & Erler (Berlin).
♦ Die Filmkopie zur rekonstruierten Musik ist im Verleih des Filmmuseums München.

Foto: privat

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