cinefest 2020 auf neuen Wegen: Interview mit Festivalleiter Hans-Michael Bock

Das cinefest mit dem angeschlossenen Filmhistorischen Kongress gehört zu den ältesten Filmerbe-Veranstaltungen in Deutschland.

In diesem Jahr hat die Corona-Pandemie auch hier die Durchführung vor besondere Herausforderungen gestellt. Stummfilm Magazin sprach darüber mit Festivalleiter Hans-Michael Bock.

Das cinefest musste sich innerhalb kürzester Zeit von einem Live- zu einem Online-Event verwandeln. Was waren die größten Herausforderungen bei diesem Prozess?

In der "heißen" Vorbereitungsphase ab ca. August 2020 waren wir wegen der dann schon in Innenräumen geltenden Hygieneregeln bereits gezwungen, uns auf eine hybride Veranstaltung einzustellen. So hätten wir beim Kongress in den traditionellen Räumlichkeiten im Gästehaus der Universität statt der sonst üblichen ca. 50 Teilnehmer nur 20 bis 25 unterbringen dürfen. Deshalb hatten wir schon mit dem Kino vereinbart, in diesem Jahr auch den Kongress dort stattfinden zu lassen. Im Kino wäre Platz für 45 bis 70 Personen gewesen. So war beispielsweise für Prof. Jan Distelmeyer und seine Studentengruppe aus Potsdam der Balkon reserviert, damit sie von dort aus hätten zuschauen und diskutieren können.

Außerdem erprobten meine sehr technik-affinen Kolleginnen Erika Wottrich, Swenja Schiemann und George Riley seit Wochen diverse Online-Plattformen und Software, um bestimmte Teile des Kongresses online zuspielen bzw. streamen zu können. Denn es war da schon unsicher, ob viele ausländische Vortragende und Teilnehmende nach Hamburg reisen würden, auch wenn dienstliche Reisen, teilweise jedoch nur mit Nachweis eines Negativ-Tests, erlaubt waren. Erstaunlicherweise haben fast alle Vortragende ihr persönliches Kommen zugesagt und nur wenige wollten auf eine virtuelle Möglichkeit des Vortrags ausweichen.

Mit der völligen Schließung der Kinos ab dem 02. November 2020 kam aber das endgültige Aus für den Live-Teil von Festival und Kongress. Bei der Umstellung des Kongresses auf komplett online konnten wir dann auf die bereits erarbeiteten Elemente des Hybrid-Formats zurückgreifen.

Die Absprachen mit unseren Veranstaltungspartnern Bundesarchiv und Eye Filmmuseum Amsterdam über die möglichen Veränderungen liefen auch zügig und einvernehmlich. Beim Kongress boten wir den Referent*innen an, ihre Vorträge entweder live online zu halten oder vorher aufzunehmen, um möglichen Verbindungsproblemen vorzubeugen. Glücklicherweise waren auch alle bereit, in der veränderten Form mitzumachen. So konnte der Kongress dann als Mischung aus vorproduzierten und zum Teil live vorgetragenen Beiträgen mit anschließenden Live-Diskussionen stattfinden.

Beim Filmprogramm ergaben sich allerdings größere Umstellungen. Da ja ein großer Teil der vorgesehenen Filme – der Programm-Flyer und der Katalog waren bereits fertig gedruckt – nur als Archiv- und Verleihkopien vorlag, die noch nicht digital existierten, gab es hier entscheidende Einschnitte. Hier erwies sich allerdings die Themenauswahl "deutsch- niederländische Filmbeziehungen" als Glücksfall, da beim Eye ein großer Teil der niederländischen Filme digitalisiert vorliegt und auch die Rechtesituation geklärt ist.

So konzentrierten wir – praktisch von einem auf den anderen Tag – das Thema auf die Filme, die in den 1930er Jahren unter Mitarbeit zahlreicher Filmschaffender entstanden, die nach 1933 von den Nazis aus der deutschen Filmindustrie vertrieben worden waren, und die – im Gegensatz zu den Exil-Stationen Paris, London und Hollywood – hierzulande ziemlich unbekannt geblieben sind. Und das, obwohl eine Anzahl sehr prominenter Namen darunter war, wie beispielsweise Ludwig Berger, Richard Oswald, Kurt Gerron, Max Ophüls, Karel Lamač und Friedrich Zelnik bei den Regisseuren sowie mehrere Kameraleute, Szenografen und Komponisten. So konnten wir in der traditionellen Festivalwoche Ende November über unsere Website mehr als zehn lange Spielfilme anbieten, natürlich – wie beim cinefest immer üblich – mit fachlichen (Video-)Einführungen durch uns und unsere niederländischen Co-Kuratoren Ivo Blom und Rommy Albers. Für einige der Filme konnten wir deutsche Untertitel neu erstellen, andere liefen – wie sonst im Kino auch – mit englischen Untertiteln.

Dazu gab es noch einige besondere Präsentationen: Das Bundesarchiv schaffte es trotz der kurzen Zeit, für das Programm einen deutschen Kurzspielfilm mit der Niederländerin Truus van Aalten und Theo Lingen zu digitalisieren. Außerdem gab es mit Unterstützung der Landeszentrale für politische Bildung, dem Národní filmový archiv Prag und dem Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds eine Online-Veranstaltung zu den im Auftrag der SS gedrehten "Dokumentarfilmen" aus den KZs Westerbork und Theresienstadt.

Wir hoffen weiterhin, dass es im Frühjahr 2021 möglich sein wird, das gesamte ausgefallene Filmprogramm nachzuholen. Das Metropolis-Kino hat seine Bereitschaft dazu schon erklärt.

Was haben Sie beim diesjährigen cinefest besonders vermisst? Was hat Sie positiv überrascht?

Schade war natürlich, dass all die persönlichen Begegnungen und Gespräche, auch in entspannter Runde in den Pausen, ausfielen. Auch die Diskussionen über die Filme nach den Kinoveranstaltungen haben gefehlt. Allerdings gab es auch positive Folgen des Online-Formats. So konnten zum Beispiel Kolleg*innen aus Spanien, England und den USA – für sie spät nachts – teilnehmen, die sonst nicht hätten anreisen können. Positiv überrascht hat uns, dass am Ende alles doch so gut geklappt hat und das kein*e Referent*in abgesagt hat.

Die Corona-Pandemie ist ein Beschleuniger digitaler Entwicklungen. Welche Chancen und Risiken sehen Sie hier für das cinefest und allgemein für die Erforschung und Bewahrung des Filmerbes?

Das sind mehrere ganz unterschiedliche Felder. Trotz der vielen Millionen Euros, die in das bundesdeutsche Digitalisierungsprogramm fließen, sind die Filme, die wir beim cinefest normalerweise zeigen, kaum in digitaler Form – und mit geklärten Rechten – verfügbar. Denn bei unseren Themen geht es ja zumeist eher um die Wiederentdeckung verdrängter Namen, Filme und Aspekte. Nicht um die Präsentation der guten alten, teuer restaurierten und wohlbekannten "Klassiker". Anny Ondra statt Otto Waalkes.

Ein Problem in Deutschland ist zudem, dass – etwa im Gegensatz zu Österreich – die großen und im Vergleich zu CineGraph finanziell "reicheren" Filmerbe-Institutionen bislang wenig Interesse gezeigt haben, schriftliche Dokumente und Fachzeitschriften zu digitalisieren und online zu stellen. So ist man für die Recherchen immer noch weitgehend auf Papier und die damit verbundenen "realen" Archivbesuche angewiesen. Und die sind zur Zeit coronabedingt sehr eingeschränkt.

Chancen für das cinefest sehe ich durchaus: Da unser Partner Bundesarchiv durch die Beschleunigung auch die Notwendigkeiten von Digitalisierungen erkennt, werden in Zukunft möglicherweise mehr Filme auch digital zur Verfügung stehen. Vielleicht nicht für die Projektion, aber zumindest für Recherchen. Und durch die Möglichkeit, eventuell auch zukünftig den Kongress zusätzlich in einer Online-Version anzubieten, erreichen wir vielleicht mehr Teilnehmende, die ansonsten nicht nach Hamburg kommen könnten. Das haben wir ja dieses Jahr schon gemerkt.

Zu den Risiken: Da wir weiterhin viele 35mm-Kopien zeigen wollen und werden, sind wir weiterhin auf Kinos angewiesen, wo dies noch möglich ist. Diese nehmen seit Jahren stetig ab. Ein weiteres Risiko ist, das die Menschen sich an die Online-Verfügbarkeit von Festivals und Retrospektiven gewöhnen und dieses Angebot auch erwarten und daher nicht mehr ins Kino kommen, vor allem die jüngere Generation. Allerdings bemerken wir auch eine Sehnsucht nach Kino und gemeinsames Filmeschauen, daher hoffen wir, dass Kino weiterhin ein beliebter Ort für Festivals bleiben wird. Und vor allem für Stummfilme, die ja auch immer ein Teil des cinefest -Filmprogramms sind, ist die Präsenzveranstaltung mit Live-Musikbegleitung ein wesentlicher Bestandteil des Erlebnisses.

Gibt es Gedankenspiele, Erfahrungen mit der Digitalisierung des cinefest 2020 auch beim Festival in 2021 einfließen zu lassen?

Das wird sich eventuell ganz notgedrungen ergeben, falls auch im nächsten November noch gewisse Einschränkungen weiterbestehen. Aber – wie wir das ja in diesem Jahr erlebt haben – kann sich die Situation ganz plötzlich ändern. Aber wir werden bestimmt die eine oder andere Erfahrung und technische Möglichkeit auch in den nächsten Jahren nutzen.

Können Sie schon einen kleinen Ausblick auf das cinefest 2021 geben? Gibt es schon Ideen für kommende Festivalthemen?

Wir haben, bei unseren Themen-Ansätzen notwendig, immer mehrere Themenkomplexe in unterschiedlichen Stufen der Entwicklung im "Brutkasten". Die Entfaltung, Recherche und Ausgestaltung solcher Ideen ist ja eine meiner Hauptaufgaben. Oft machen uns Kolleg*innen Vorschläge, oder wir selbst entwickeln Ideen, die ich dann auf die Realisierungsmöglichkeiten überprüfen muss. Unsere Filmlisten zu manchen Themenideen bestehen oft aus mehreren hundert Titeln, die wir dann nach der technischen und rechtlichen Verfügbarkeit überprüfen müssen.

Wie im Katalog auch schon angekündigt, steht das nächste Thema fest. Ob es realisiert werden kann, steht in der augenblicklichen Situation noch in den Sternen. Unter dem (Arbeits-)Titel "Westwärts! Osteuropäische Filmmacher in Westeuropa" wollen wir solchen Karrieren nachspüren, die noch nicht im Rahmen der, unter anderem auch durch CineGraph angeregten Exilforschung – mit dem Schwerpunkt der jüdischen Filmschaffenden zur Zeit der Nazi-Diktatur – erforscht worden sind.

Dabei sind durchaus interessante und tragische Schicksale dabei, so zum Beispiel Marija Leiko, die noch vor dem Ersten Weltkrieg aus Lettland kam, im deutschen Stummfilm zur Diva wurde, aber im Tonfilm nicht weiterarbeiten konnte, in die Sowjetunion zurückkehrte und vom NKWD ermordet wurde. Ihr Partner, der Regisseur Janis/Johannes Guter, mit dem sie nach Deutschland gekommen war, blieb und drehte schließlich serienweise Tran&Helle- Propaganda-Kurzfilme. Oder es bleibt zu überprüfen, wie weit viele der damals so populären "Russen Filme" von Filmschaffenden aus der Ukraine oder anderen sowjetisierten Ländern stammen.

Wir danken Ihnen für die spanndenden Einblicke und wünschen dem cinefest weiterhin gutes Gelingen!
Das Interview führte Frank Hoyer

Internetseite cinefest
Ankündigungs cinefest 2020 (PDF) 
Programmflyer cinefest 2020 (PDF)

Bildnachweise: Logo cinefest: Veranstalter cinefest; Foto Hans-Michael Bock: María José Rosales Robles; Foto Film „De Kribbebjiter“: Eye Filmmuseum, Amsterdam
 

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