"Wir dürfen nicht aufhören, laut und vernehmbar zu sein."

Vom 15. bis 17. November 2024 findet erstmals “Als QUEER schwarz-weiß war” statt. Das dreitägige Festival im Filmmuseum Potsdam würdigt wichtige und teilweise vergessene Werke und Personen aus einer Phase der entstehenden queeren Filmkunst.  Stummfilm Magazin sprach mit Sachiko Schmidt, Programmleiter im Filmmuseum Potsdam, und Jirka Witschak, Projektleiter von Queeres Brandenburg, über die Veranstaltungsreihe. 

Was erwartet das Publikum beim Filmerbe-Festival “Als QUEER schwarz-weiß war”? 

Sachiko Schmidt: Im Zentrum stehen Filme aus den 1910er, 20er und 30er Jahren. Zumeist sind es Stummfilme, die durch Live-Musik begleitet werden. Einige essentielle Klassiker des queeren Films sind dabei, wie “Anders als die Andern”, aber auch weniger Bekanntes, wie z.B. der Kurzfilm “Aus eines Mannes Mädchenzeit” aus dem Jahr 1913. 

Jirka Witschak: Das Publikum erwartet eine Zeitreise in die Anfangszeit einer emanzipatorischen, queeren Epoche, die von uns in der heutigen aufgeregten Zeit häufig nicht wahrgenommen wird. Ich finde das Wording "Filmerbe-Festival" sehr wichtig, denn die Filme, die hier gezeigt werden, sind ein Teil unseres aufklärerischen und kulturellen Erbes. Wir zeigen nicht nur die Filme, sondern versuchen in die Gegenwart zu vermitteln – mit Einführungen, Ausschnitten aus weiteren Filmen, einer Buchpräsentation. Besonders freue ich mich auf die Grammophon-Veranstaltung vor dem Film "Viktor und Viktoria". 

Wie entstand die Idee zu “Als QUEER schwarz-weiß war”? 

Sachiko Schmidt: Mehrere Mitarbeiter:innen im Filmmuseum Potsdam hatten sich in der letzten Zeit intensiver mit queeren Aspekten der Filmgeschichte auseinandergesetzt, so hatte meine Kollegin Johanne Hoppe bereits Stummfilm-Programme mit Crossdressing-Filmen konzipiert, während sich unser Direktor Michael Fürst z.B. mit Verfilmungen des Künstler-Romans “Michael” (Herman Bang, 1904) beschäftigt hatte. Jirka Witschak von Queeres Brandenburg hatte neben weiteren inhaltlichen Impulsen schließlich die großartige Idee, mit QueerScope – als Förderer unabhängiger queerer Filmfestivals – zusammenzuarbeiten, um erstmals ein Filmfestival zu etablieren, das weit in die Filmgeschichte zurückblickt, um dort queere Bilder, Geschichten und Akteur:innen zu entdecken. 

Wie kann man sich die Situation von queeren Menschen in der Weimarer Republik vorstellen? 

Jirka Witschak: Der Paragraph 175 des Strafgesetzbuches, der mit dem Kaiserreich installiert wurde, stellte homosexuelle Handlungen unter Strafe. Queere Menschen waren marginalisiert und das in einer ohnehin politisch und sozial aufgeladenen und instabilen Zeit. Gleichzeit entstanden, besonders in der Weltstadt Berlin, zunehmend Räume und Diskurse, in denen nicht-heteronormative Lebensweisen an Bedeutung gewinnen konnten. Die Homosexuellen-Bewegung erhielt eine Stärkung durch Pioniere wie den Sexualforscher Dr. Magnus Hirschfeld, aber auch freizügige Künstler:innen, wie die Tänzerin Anita Berber, forderten sexuelle und gesellschaftliche Normen heraus, sorgten für Auf- und Erregung und verhalfen queeren Identitäten zu einer bisher unbekannten Sichtbarkeit. Dem Kino – als Massenmedium dieser Zeit – kommt dabei eine Schlüsselfunktion zu. So zeigten zum Beispiel (Gender-)Verwechslungskomödien, die mit Stars wie Asta Nielsen oder Ossi Oswalda in Hosenrollen besetzt waren, eine Aneignung lesbischer Moden und Codes. Und auch wenn am Ende dieser Filmplots meist die heteronormative Ordnung wieder hergestellt wird, öffnen Travestie und Drag immer auch die Tür für gleichgeschlechtliches Begehren und fordern Stereotype und Normen gründlich heraus. Das Kino konnte so auch Angebote für queere Lesarten und Identifikationsmodelle bereitstellen. 

Was kann uns der damalige filmische Blick auf sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität heute noch sagen? 

Jirka Witschak: So wie wir heute um vielfältige Fragen von Identität ringen, haben unsere queeren "Vorfahren" um gesellschaftliche Anerkennung kämpfen müssen. Wir dürfen nicht aufhören, laut und vernehmbar zu sein. 

Sachiko Schmidt: Es wird in der Tat spannend, wie ein heutiges Publikum, das Queerness vielleicht mit einem völlig anderen Selbstverständnis wahrnimmt, auf die Filme reagiert. Wir hoffen, dass wir mithilfe der vermittelten Kontexte zu entsprechenden Gesprächen einladen können. 

Richard Oswalds "Anders als die Andern" sticht bei heutigen Betrachtungen oftmals hervor, da er explizit eine politische Forderung transportiert? Damals war er ja umstritten ... 

Sachiko Schmidt: Ja, “Anders als die Andern” aus dem Jahr 1919 ist ein einzigartiges Filmzeugnis! So positionierte sich der “Aufklärungsfilm” mit Inbrunst und mit neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft gegen den Paragraphen 175 und bot den Zuschauer:innen zugleich ein kunstvolles und berührendes Spielfilm-Melodram. Neben dem herausragenden Conrad Veidt, dem prägnantesten männlichen Star der Stummfilm-Zeit, versammelte Regisseur Richard Oswald vor und hinter der Kamera mit Magnus Hirschfeld und Anita Berber, die illustersten queeren Akteur:innen seiner Zeit. Der Film erzählt von der zarten Romanze zwischen einem Geigenvirtuosen und dessen Schüler. Die Beziehung gerät durch die Familienangehörigen beider Männer, besonders aber durch die Erpressungsversuche eines skrupellosen Gauners unter Druck. Der Erpresser wird zwar gefasst und verurteilt, doch auch der Musiker wird wegen des Vergehens gegen Paragraph 175 schuldig gesprochen. Aus Angst vor einer öffentlichen Ächtung bleibt ihm nur der Suizid. “Anders als die Andern” wurde schnell zum Kassenschlager, erhielt viel lobende Kritik. Doch bald – auch angefeuert durch christlich-konservative, antisemitische und völkische Gruppen – wurde der Film öffentlich skandalisiert und es kam zu Störaktionen in Kinovorstellungen. Am Ende sorgten die Proteste für die Wiedereinführung einer restriktiven Filmzensur in Deutschland. Es sollte Jahrzehnte dauern, bis ein Film wieder derart offen queere Belange und Themen adressierte wie es “Anders als die Andern” tat. 

Was lässt sich zur Überlieferung von "Anders als die Andern" aus filmarchivarischer Sicht sagen? 

Sachiko Schmidt: Die Nazis erklärten Magnus Hirschfeld zum Feindbild schlechthin, so ist es leider kein Wunder, dass sich keine vollständige Kopie des Films, an dem der jüdische Forscher so intensiv mitgewirkt hatte, erhalten hat. Lediglich etwa ein Drittel des ursprünglichen Films überlebte in Form einer nach Russland exportierten Kurzfassung und konnte im Moskauer Filmarchiv Gosfilmofond aufgefunden werden. Das Fragment gelang erst in den 1970er Jahren über das Staatliche Filmarchiv der DDR nach Deutschland. Dem Filmmuseum München ist zu verdanken, dass durch die sorgfältige Ergänzung von Zwischentiteln, Quelltexten und Standbildern heute wieder eine Fassung des Films existiert, die eine fast lückenlose Nachvollziehbarkeit der Handlung ermöglicht und die gleichzeitig die politische Kraft von “Anders als die Andern” deutlich macht. Inzwischen liegt vom Filmmuseum München die dritte Überarbeitung dieser Rekonstruktion vor, die inzwischen sogar die Farbigkeit des Originals wiedergibt. Diese Fassung zeigen wir in Potsdam. Hier ist queere Filmgeschichte – auch im direkten Wortsinn – glücklicherweise nicht mehr nur schwarz-weiß. 

Die schwulen Schauspieler Wilhelm Bendow und Hubert von Meyerinck, die bei der Präsentation von Matthias Gerschwitzs Buch "Tü-Tü und Zack-Zack: Die fast vergessenen Karrieren von Wilhelm Bendow und Hubert von Meyerinck" vorgestellt werden, waren ja nicht nur während der Weimarer Republik, sondern auch von 1933 bis 1945 vor der Kamera zu sehen. Zu einer Zeit, wo Homosexuelle vom Nazi-Regime verfolgt und in KZs ermordet wurden. Wie lässt sich dies erklären? 

Sachiko Schmidt: Die beiden heute fast vergessenen Schauspieler haben wir bewusst an den Anfang unseres Festivals gesetzt. Matthias Gerschwitz hat die Biografien der beiden intensiv recherchiert und spannend beschrieben. Anhand derer lässt sich Filmgeschichte sowie auch queere Geschichte über vier politische Systeme hinweg erzählen. Sowohl der in Potsdam geborene Hubert von Meyerinck als auch Wilhelm Bendow starteten ihre Schauspielkarrieren noch während des Kaiserreichs. In der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus, in der BRD ging es für beide mal auf, mal ab. Man glaubt es kaum, für wie viele Filme sie über die Jahre besetzt wurden. Beide Schauspieler waren schwul. Während von Meyerinck offen mit seiner Homosexualität umging, tat das Wilhelm Bendow nicht, legte seine Rollen aber oft so an, dass diese als queer lesbar waren. Bendow wurde häufig für entsprechende Figuren besetzt. Mit der Komödie “Aus eines Mannes Mädchenzeit” (1913) steht ein Beispiel hierfür gleich ganz am Anfang seiner Karriere. Während des Nationalsozialismus bleiben beide Schauspieler in Deutschland, fügen sich den Bedingungen der NS-Kulturpolitik, übernehmen Rollen in Unterhaltungs- sowie auch Propagandafilmen. So überstehen von Meyerinck und Bendow als queere Künstler den Nationalsozialismus unbeschadet. 

Ist “Als QUEER schwarz-weiß war” als einmalige Filmreihe angelegt oder ist bereits an eine Fortsetzung angedacht? Es gibt ja sicher noch einige cineastische Perlen zu queeren Themen zu entdecken ... 

Sachiko Schmidt: Wir möchten auch in Zukunft Filmerbe-Festivals mit queerem Bezug organisieren! Die Liste an spannenden Filmentdeckungen wächst kontinuierlich. Schön wäre es, wenn wir noch weitere Communities zur Mitwirkung gewinnen können, die mit ihrem eigenen Blick queere Filmgeschichte(n) durchstreifen. 

Jirka Witschak: Wir haben jetzt schon das Jahr 2025 im Blick. Wir sind von diesem einmaligen Konzept sehr überzeugt und denken, dass wir hier auch interessierte Förder:innen finden werden. Für die Zusammenarbeit mit QueerScope besteht von unserer Seite durchaus "Wiederholungsgefahr".

Wir danken Ihnen sehr für die interessanten Einblicke und wünschen “Als QUEER schwarz-weiß war” viel Erfolg! 
Das Interview führte Frank Hoyer. 

Programmübersicht:
“Als QUEER schwarz-weiß war”

Linktipps:
Filmmuseum Potsdam 
Queeres Brandenburg
Queerscope
Hubert von Meyerinck (Wikipedia)
Wilhelm Bendow (Wikipedia)
“Anders als die Andern” (Wikipedia)

Buchtipp: 
"Tü-Tü und Zack-Zack: Die fast vergessenen Karrieren von Wilhelm Bendow und Hubert von Meyerinck" von Matthias Gerschwitz, erschienen 2023, ‎ Books on Demand

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