Nina Goslar im Gespräch mit Moritz Eggert über seine neue Musik zu “Blackmail”

Bis 30. Oktober 2024  ist der Hitchcock-Klassiker "Erpressung" (GB 1929) mit einer neuen Musikfassung in der ARTE-Mediathek abrufbar. 

Der Thriller kam seinerzeit in einer Stumm- sowie in einer Tonfilmversion in die Kinos. Das Streaming wird anlässlich des 125. Geburtstags von Alfred Hitchcock angeboten (Infos zum Film auch hier). Nina Goslar sprach mit dem Komponisten Moritz Eggert über seinen neuen Soundtrack zum Film. 

Einen Stummfilm mit neuer Musik zu erleben ist wie eine Séance, bei der die Geister der Verstorbenen wieder wach werden. Kamen Sie mit Hitchcock in Kontakt, als Sie “Blackmail” schrieben? 

Ja, das ist eine schöne Frage. Ich bin seit frühster Kindheit ein großer Hitchcock-Fan, habe als Kind die deutschen Ausgaben von “Die drei Fragezeichen” gelesen, wo auch Hitchcock eine Rolle spielt, kenne alle seine Filme. Und ich habe das bei der Arbeit wirklich so empfunden, dass man ihm da irgendwie über die Schulter schaut, und jetzt noch größeren Respekt für seine Kunstfertigkeit, wie auch für die Kunstfertigkeit von allen Beteiligten, für die Schauspieler, die Ausstattung etc.

Wie lange haben Sie denn effektiv an der Musik geschrieben? 

Das waren intensive zweieinhalb Monate, in denen ich an dem Film gearbeitet habe. Als es ans Schreiben ging, entstanden pro Tag ungefähr eineinhalb Minuten Filmmusik. 

Und wie sind Sie vorgegangen? Macht man sich erst einmal ein Szenario und nimmt sich zentrale Szenen vor oder hat Sie mehr die Entwicklung einzelner Figuren interessiert? 

Zunächst geht es ja darum, dass man den Film intensiv betrachtet und nur die Bilder auf sich wirken lässt. Ich habe das ganz bewusst gemacht, ohne mir andere Neuvertonungen anzuhören. “Blackmail” ist meine erste größere Filmmusik und ich versuchte zunächst ein heutzutage übliches Verfahren, das heißt, ich begann mit sogenannten “hitpoints” und habe diese dann berechnet. Ich merkte aber, dass das für mich überhaupt nicht funktioniert, denn ich höre die Musik schon direkt, wenn ich die Bilder sehe, das heißt, ich habe eine starke musikalische Vorstellung, die auf den Rhythmus der Bilder reagiert, ohne dass ich dabei Zielpunkte abhaken möchte. 

Bei der Arbeit am Film bin ich chronologisch vorgegangen. Ich wusste ja, wo ich hin will und dass es bestimmte Themen gibt, mit denen ich arbeiten werde, weil ich ich sehr gerne mit Leitmotiven arbeite. Ich habe die Musik vom Anfang bis zum Ende durchkomponiert und das immer wieder mit dem Timing gecheckt, ob das jetzt so trägt, ob die Musik im Charakter sich verändern muss und so weiter. Das ist ganz anders als wenn man zum Beispiel für ein Sinfonieorchester schreibt, also Dramaturgie, Tempowechsel und Beschleunigungen vom Film vorgegeben bekommt. Aber es ist auch angenehm, weil es einem Entscheidungen abnimmt, und den Spannungsbogen gibt natürlich Hitchcock vor, das ist ganz befreiend. 

In der Tonfilmversion sind die ersten acht Minuten ohne Dialog, die Musik ist motorisch und begleitet Scotland Yard bei der Arbeit. Bei ihnen ist es anders. Da ist von der ersten Minute an Dramatik angesagt und Sie zeichnen sorgfältig jede Kamera Bewegung nach. Wollten Sie damit signalisieren, dass dies nicht Musik zu einem Genrefilm ist, sondern dass es, fast wie in der Oper, um Schuld und Sühne geht? 

Ja, natürlich, das Opernhafte gibt es bei Hitchcock sehr oft, vor allem in seiner Hochzeit, als er mit Bernard Herrmann gearbeitet hat, der für mich ein großes musikalisches Vorbild ist und mich sehr geprägt hat. Und wenn man diese berühmten Hitchcock-Filme wie “North by Northwest”, “Psycho” oder “Vertigo” anschaut, dann sind die natürlich auch auf die Musik hin inszeniert, das sind musiktheatralische Werke, finde ich. Da ist die Verschränkung von Musik, Handlung und Bild so virtuos und meisterhaft und auch so artifiziell, so etwas gab es in dieser Form im Kino bis dahin gar nicht. 

Als ich mich mit “Blackmail” beschäftigte, stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn Bernard Herrmann und Hitchcock an diesem Film zusammen gearbeitet hätten. Die kannten sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Hitchcock hat in “Blackmail” seine eigene bildliche Sprache schon total entwickelt, es fehlt ihm aber noch der Komponist, der das kongenial vertont. Und da habe ich – natürlich mit sehr viel Respekt – versucht, mich in die Rolle von Bernard Herrmann hineinzuversetzen, ohne ihn direkt imitieren zu wollen: Wie hätte er diese Szenen gemacht, vor allem, wenn es durchgehend Musik braucht? Mein Ziel war, eine Verschränkung von Musik und Bild zu erreichen, wie es Hitchcock in seinen besten Film immer wieder gelungen ist.

Im Ergebnis ist die Musik sehr groß dimensioniert, Film und Geschichte spielen aber in einem Kleinbürgermilieu und in schäbigen Absteigen. Hat dieser geballte Klang damit zu tun, dass Sie für Orchester schrieben? 

Nein, viel wichtiger ist, dass es um große Emotionen geht. Hitchcock hat ja mehrere Kammerspiele gemacht und die Musik ist dann nicht unbedingt klein. Da fallen mir jetzt viele Beispiele ein, “Vertigo” ist auch ein Kammerspiel. Und da ist die Musik unglaublich groß dimensioniert. Bernard Herrmann greift voll ins Orchester, das ist eine der tollsten Filmmusiken überhaupt, da fährt er alles auf. Das ist ein riesen Klang. 

Ich finde es spannend, wenn man mit der Musik wirklich in die Figuren reingehen kann, ich finde bei “Blackmail” auch die Hauptdarstellerin ganz großartig, die mit ihrem Minenspiel noch so halb aus dem Stummfilm kommt. Je öfter ich die Szenen gesehen habe, ist mir umso mehr aufgefallen, wie präzise alle Schauspieler in ihrer Mimik sind; auch Hitchcock war so präzise in seinen Regieanweisungen, er wusste genau, was er da wollte. Und das sind große Emotionen. Dass eine Frau aus einem kleinbürgerlichen Milieu kommt, finde ich keinen Grund, dass sie nicht eine Begleitung mit einem großen Orchester verdient hat. Denn aus ihrer Perspektive heraus ist das ihre Welt und das sind große Gefühle, da geht es um alles. Und wenn es um alles geht, finde ich ist ein Orchester passend. 

Wie ist denn gelungen, diese permanente Steigerung hinzubekommen? Sie setzen das Level in der ersten Szene schon ziemlich hoch an. Sind Sie, auch kompositorisch, auf neue Verfahren gekommen, dass es immer noch einen Tick spannender, unheimlicher und treibender wird? 

Ja, für mich selbst gibt es beim Komponieren so etwas wie im positiven Sinne Sportliches. Also ich finde nicht, dass Kunst generell ein Ort ist, wo es um Mäßigung oder Zurückhaltung oder Mittelmaß geht. Es geht in gewisser Weise immer um Übertreibung. Das fängt im Theater an, ich muss auf der Bühne lauter sprechen als im normaler Leben, sonst versteht mich das Publikum nicht. Ich muss auch, wenn ich Emotionen in der Musik darstelle, sie immer in gewisser Weise übertreiben, ich kann sie nicht auf einem kleinen Level machen, dann werden sie zum Teil missverstanden. 

Und Hitchcock macht es ja in “Blackmail”, wenn er sich selbst immer wieder übertrifft in jeder Szene, und sich fragt, okay, was kann ich jetzt noch bringen? Dann muss es am Schluss eben das British Museum sein. Und er hat Spaß, die Verfolgungsjagd durch diese riesigen Hallen zu inszenieren, das ist natürlich ein Steigerungsmoment zu den kleinbürgerlichen Verhältnissen. Also auch Hitchcock will immer noch mehr steigern. 

Aus heutiger Perspektive ist der Film natürlich nicht mit einem modernen Actionfilm vergleichbar, aber in der damaligen Zeit sind die Menschen im Kino unglaublich mitgegangen, glaube ich, wenn zum Beispiel die Autos von Scotland Yard die Kurve nehmen und die Kamera mitgeht. Das hatte man damals im Kino noch nicht oft gesehen. Und wenn man das mitdenkt, dann ist es für mich auch als Komponist einfach reizvoll zu sagen: Okay, ich setze jetzt die Stange schon mal hier an, und dann versuche ich, das immer weiter zu steigern. Die Mordszene hat mir besonders Spaß gemacht, weil sie so subtil anfängt und es gibt lange Szenen, wo Hitchcock sich Zeit lässt, einfach diese unangenehme Situation, wo man nicht weiß, was will der Maler von Alice; will er was von ihr, will er sie vergewaltigen, ist er vielleicht doch nett und so. Und sie ist auch unsicher und es gibt immer wieder diese gespielten Momente und diese lange Steigerungen über zwanzig Minuten, die hat mir am meisten Spaß gemacht. 

Man könnte jetzt provokant sagen, Ihre Musik versucht sich vor den Film zu schieben. Hatten Sie manchmal Konkurrenzgelüste? 

Nein, überhaupt nicht. Ich habe wirklich eher gedacht, wie hätte es Bernard Herrmann gemacht, und der hätte auch versucht, das, was es an tollem Bildmaterial gibt, so intensiv zu machen, dass es fast schon transzendente Momente gibt. Bei “Vertigo” gibt es Momente im Film, die sind so ikonisch. Das liegt auch daran, dass die Musik absolut in die Vollen geht. Da habe ich nie das Gefühl, die Musik geht über die Bilder von Hitchcock hinaus, das ist einfach eine perfekte Einheit. Also wenn Kim Novak in dieser ​berühmten Szene mit James Stewart im Hotelzimmer aus dem Schatten rauskommt und sie dann so aussieht, wie diese Frau, die er sich vorstellt. 

Ich denke, die größten Filmregisseure der Filmgeschichte wussten immer, dass, wenn sie starke Bilder haben, auch eine wirklich starke Musik brauchen. Von Scorsese bis Kubrick, die haben alle diese Kunst beherrscht. Sie haben keine Angst vor der Musik, denn sie sind als Regisseure so gut, dass sie eine gleichberechtigte Kraft daneben haben wollen. Und wie gesagt, ich will mich jetzt überhaupt nicht mit Bernard Herrmann vergleichen, aber natürlich war das mein Vorbild. Ich habe mir gesagt, okay, das finde ich toll und so möchte ich das auch versuchen zu machen. Das war absolut mein Leitbild bei dieser Arbeit. 

Herzlichen Dank für diese spannenden Einblicke in Ihre Arbeit zu “Blackmail”!

Über den Komponisten

Moritz Eggert (*1965 in Heidelberg) studierte Klavier an der Frankfurter und Komposition an der Münchner Musikhochschule und der GuildhallSchool for Music and Drama (Robert Saxton) in London. 

Moritz Eggert ist ein ausgesprochen vielseitiger Komponist, der seine eigene Erfahrung als Performer und Pianist in unterschiedlichsten Musikwerken umsetzt. Er schreibt Konzertmusik für Kammer- und Orchesterbesetzungen, komponiert für Radio, Hörspiel und Film und hat sich auch mit experimenteller und elektronischer Musik einen Namen gemacht. Von ihm stammen 19 Opern und Musiktheaterwerke, die international aufgeführt werden, wie an der Komischen Oper Berlin, Oper Bonn, dem Landestheater Linz, dem Theater Luzern und der Oper Frankfurt. 

Als Komponist setzt er sich mit großer Leidenschaft über Genrezwänge und akademische Kategorisierungen hinweg, seine Musik ist humorvoll, provozierend und herausfordernd. Getreu seinem Grundsatz "in Musik muss für alles Platz sein, das auch im wirklichen Leben Platz hat“ arbeitet er an seinem eigenen Klangkosmos, Melodik und Emotionalität stehen für ihn nicht im Widerspruch zu experimentellen oder performativen Klangideen.

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