Ein Essay von Dr. Rolf Giesen über die Hintergründe der Vampir- und Werwolf-Mythologien anlässlich der Neuverfilmungen von “Nosferatu” (D 1922) und “The Wolf Man” (USA 1941), die Anfang 2025 in die Kinos kommen
Jahrzehnte haben die amerikanischen Major Companies, in Ermangelung einer Mythologie, die weiter zurückreicht als der Wilde Westen eines Lederstrumpf, Wyatt Earp, Billy the Kid und Buffalo Bill Cody, in der Geschichte des Alten Europa gewildert: “Alt-Heidelberg” (USA 1927) - Kostümdramen aus der Französischen Revolution – Marlon Brando als Bonaparte in “Désirée” (USA 1954) – Orson Welles als “Graf Cagliostro” (USA 1949) – Geschichten aus der Antike – Charles Laughton und Peter Ustinov als Nero – Kirk Douglas als “Spartacus” (USA 1960) – Universals Verfilmung von “Im Westen nichts Neues” (USA 1930), deren Berliner Uraufführung im Dezember 1930 von den Nazis empfindlich gestört wurde.
Besonders populär sind Schauergeschichten, die Figuren so bekannt wie Cartoon-Stars – “Nosferatu” oder der “Wolf Man”. Robert Eggers, nach langem Zögern wohl auch aus rechtlichen Gründen, und Leigh Whannell bringen sie neu auf die Leinwand: Teil eines filmischen Franchise, dessen Ursprung nach Deutschland verweist.
Alptraum Erster Weltkrieg
Es war der Erste Weltkrieg, in dessen Verlauf sich das heutige Hollywood der Major Film Companies etablierte, und es war das Ende des Krieges, das dem amerikanischen Film einen globalen Markt einbrachte. Der Krieg definierte auch die Motive des Horrorfilms. In den Schützengräben des Ersten Weltkriegs gab es eine regelrechte Rattenplage. Es wurden Hetzjagden auf die Nager organisiert, aber es war zwecklos. Abfälle und Leichen waren eine zu verlockende Nahrungsquelle. Und es waren die Versehrten, die Kriegskrüppel, die entsetzlich entstellt von den Schlachtfeldern Heimkehrenden, beinamputiert, mit zerschossenen Gesichtern, monströse Gestalten, vor denen die Daheimgebliebenen, die sie mit Blumensträußen und Marschmusik ins Feld geschickt hatten, ekelte: eine menschgewordene “Rattenplage”. Denn was brachten sie heim von den Fronten des Krieges? Geschlechtskrankheiten, eine Pandemie, die unter dem Namen Spanische Grippe bekannt wurde und weltweit Millionen hinwegraffte, und jede Menge Alpträume dazu.
Es war, als öffnete sich der Schlund der Hölle und als stiegen die Dämonen leibhaftig aus ihren Gräbern. War der Große Krieg – so mutmaßte der Maler und Grafiker Albin Grau, der in Feldlazaretten der Ostfront als Anästhesist sprichwörtlich im Blut gewatet war – nicht so etwas wie ein “kosmischer Vampir”? So wurde durch das Blut der Gefallenen alter Aberglaube revitalisiert, das Übersinnliche in spekulativen Büchern und Zeitschriften behandelt und schließlich auch auf der Leinwand illustriert. Conrad Veidt spielte 1919 im “Cabinet des Dr. Caligari” einen von einem skrupellosen Mediziner in einen willenlosen Killer verwandelten Somnambulen und 1920 unter der Regie von Friedrich Wilhelm Murnau die Doppelrolle des Dr. Warren (Dr. Jekyll) und Mr. O’Connor (Mr. Hyde) in “Der Januskopf”.
Dracula wird Nosferatu
Albin Grau hatte sich derweil der okkulten Szene in Berlin angeschlossen, die ihre Versammlungen in Hinterzimmern einschlägig bekannter Buchhandlungen abhielt, und entwarf Grafiken und Zwischentitel für die junge Filmindustrie, die sich in der Friedrichstraße angesiedelt hatte. Dabei lernte er Murnau kennen. Grau und sein windiger Partner, ein Finanzjongleur namens Heinrich “Enrico” Dieckmann, produzierten von Juli bis Anfang November 1921 mit Murnau als Regisseur einen "Heimkehrerfilm", der den Menschen das Blut in den Adern gefrieren ließ: die apokalyptische Heimsuchung eines Blutsaugers, eines Strigoi, eines Nosferatu, dem auf seinem Weg aus dem Osten ein Heer von Ratten folgt und mit ihnen die Pest. Es handelte sich um eine unautorisierte, aber in die “Zeitenwende” nach dem Krieg passende Adaption des Dracula-Romans des knapp zehn Jahre zuvor in London verstorbenen Bram Stoker. Da Conrad Veidt anderweitig im Einsatz war, spielten der eher auf Nebenrollen abonnierte Max Schreck und in Einzelfällen auch ein zweiter Akteur, vermutlich Hans Rameau, den Vampirgrafen Orlok. Der Film war nicht eine reine Ateliergeburt wie der aus Kostengründen spartanisch-expressionistisch realisierte Caligari, es wurde auch in Lübeck und Wismar gedreht und vor allem in der geisterhaften Landschaft der Hohen Tatra.
Die Geschichte vom gespenstischen Vampir Nosferatu, der Tod, Pest und Entsetzen verbreitet, ist mit bannender Eindringlichkeit hier zum Lichtspiel gestaltet. Stimmung schaffende Elemente sind herangeholt, wo sie immer die Linse fand: Düstere Hochgebirgsklüfte, wildbrausende See, sturmgepeitschtes Gewölk, unheimliches Gemäuer. Ein Musterbeispiel dafür, wie der Film die Stimmungen der Landschaft für seine Wirkenszwecke auszunutzen hat, las man in der Rezension der “Lichtbild-Bühne” vom 11. März 1922, doch bald wurde klar, dass die Filmkunst auf der Leinwand lediglich Vorwand für betrügerische, gerichtsnotorische Geldschieberei hinter der Leinwand war. Die Herstellerfirma Prana, die noch im selben Jahr liquidiert wurde, “erwirtschaftete” Millionenverluste. Und nicht nur die Finanziers gingen leer aus, sondern auch die pekuniär recht klamme Witwe von Bram Stoker, die 5000 Pfund Sterling wegen Verletzung der Urheberrechte ihres verstorbenen Gatten verlangte.
Universal-Horror
Der Film selbst aber erwies sich als ebenso untot wie der Vampir. Er lief in vielen (osteuropäischen und spanischsprachigen) Ländern, wobei die Einnahmen in unbekannte Taschen flossen. Nur in den USA, wo “Caligari” und Paul Wegeners “Golem” (How He Came Into the World) mit großem Erfolg gezeigt wurden (beide Produktionen sollten Einfluss auf die Frankenstein-Serie haben), fanden die Schieber erst einmal keinen Käufer – bis Universal für 400 Dollar endlich eine in Filmkreisen zirkulierende Export-Kopie erwarb. Inzwischen nämlich hatten die Laemmles, die Eigentümer der Universal, von Florence Stoker die Filmrechte an Dracula erworben und planten eine Bearbeitung mit dem in Stuttgart geborenen Paul Leni als Regisseur, der daraus einen Hollywood-Nosferatu machen sollte. Doch Leni starb im September 1929 und der für die Hauptrolle vorgesehene Lon Chaney ein Jahr später. Als Ersatz hatte man Conrad Veidt ausgeguckt, den hochgewachsenen Somnambulen aus Caligari. Der fühlte sich aber der englischen Sprache noch nicht mächtig genug, und so ging der Part an Béla Lugosi, der Veidts Leinwand-Partner in Murnaus Januskopf gewesen war und dessen Englisch noch miserabler war. Ein Hindernis stellte das nicht dar, denn schließlich war Dracula ja nicht nur eine Ausgeburt der Phantasie, sondern auch der Karpaten. Unglücklicherweise konnte Universals Chefmaskenbildner Jack Pierce den gebürtigen Ungarn, der Dracula bereits auf der Bühne verkörpert hatte, nicht dazu bewegen, ein Nosferatu-ähnliches Make-up zu akzeptieren. Lugosi lehnte in der Folge sogar die von maskentechnisch von Pierce betreute Rolle der Frankenstein-Kreatur ab, die er als “Vogelscheuche” bezeichnete und nur eines grunzenden Statisten würdig. Der grunzende Statist war dann Boris Karloff, der ein Star wurde, denn das amerikanische Publikum steht auf Monster.
Zwar ist die “Vampirseuche” ein osteuropäisches Phänomen gewesen, Fälle von Milzbrandopfern, die - exhumiert, was angesichts der Hysterie häufig vorkam - hellrotes, dünnflüssiges Blut aufwiesen, Scheintote, die lebendig begraben worden waren, an seltenen Blutkrankheiten Verstorbene –, aber Gegenstand “wissenschaftlicher” Untersuchung wurde sie in Leipzig, wo man Anfang des 18. Jahrhunderts, spätestens seit dem Erscheinen eines “Traktats von dem Kauen und Schmatzen der Toten in Gräbern” des Diakons Michael Ranft Anno 1732 auch universitär über Blutsauger disputierte: “Längst haben uns unsere Großeltern vieles von in Gräbern fressenden Toten erzählt, aber wir haben dagegengehalten, dass es uns widerstrebe, diesen Märchen und äsopischen Fabel, an denen sich nur die alten Weiber ergötzen, Glauben zu schenken.” Ranft wollte den offenen Fragen auf den Grund gehen und den Teufel dabei außen vor lassen: “Das Klopfen der Toten in den Gräbern; Fressen die Toten ihre Kleider?; Der Gestank der Körper u. ob daher die Pest kommt.”
Ab 1933, unter dem Nazi-Regime, war die Herstellung und Verbreitung von Horrorfilmen in Deutschland weitgehend passé. Der Horror wurde stattdessen auf ideologische Feinde projiziert. Im antisemitischen Hetzfilm “Der ewige Jude” (1940) sah man Peter Lorre als Kindermörder in “M” und Schwärme von Ratten: "Wo die Ratten auch auftauchen, tragen sie Vernichtung ins Land, zerstören sie menschliche Güter und Nahrungsmittel. Auf diese Weise verbreiten sie Krankheiten, Pest, Lepra, Typhus, Cholera, Ruhr usw. Sie sind hinterlistig, feige und grausam und treten meist in großen Scharen auf. Sie stellen unter den Tieren das Element der heimtückischen, unterirdischen Zerstörung dar - nicht anders als die Juden unter den Menschen.“
Spiegel des menschlichen Unterbewusstseins
Einer, der dem Holocaust des selbsternannten “Wolfsmenschen” Hitler entkommen war, war der deutsche Schriftsteller Curt Siodmak. 1941 saß der Emigrant in einem Bungalow der Universal Studios in Hollywood über einem Drehbuch für einen Horrorfilm und dichtete, was später vermeintlicher Teil der Volksmythologie wurde: “Even a man who is pure in heart and says his prayers by night, may become a wolf when the wolfbane blooms and the autumn moon is bright.”
Man hatte ihm einen Filmtitel aufgedrückt, der ursprünglich für Boris Karloff vorgesehen war: “The Wolf Man”, eine Besetzung mit dem unglücklichen, ungeliebten Sohn des 1930 verstorbenen Lon Chaney. Drehbeginn sollte in zehn Wochen sein. Universals “Wolfsmensch” spielte zwar in England, aber die Seuche des Werwolfs wurde drehbuchgemäß eingeschleppt aus Osteuropa wie die des Vampirs, bezeichnenderweise von Béla the Gypsy (Lugosi).
Filme, wusste der 1902 in Dresden geborene und im September 2000 in Three Rivers, Kalifornien, verstorbene Siodmak, “sind der Spiegel des menschlichen Unterbewusstseins, das nach einer Übertragung seiner eigenen Furcht in ein anderes Ausdrucksmittel sucht. Sie sind ein abstraktes und synthetisches Mittel, mit dem das “Es” sich für einige Stunden von seinen eigenen Ängsten befreit.”
Dementsprechend, sagte Siodmak, sei seine Psychoanalyse die Schreibmaschine gewesen: “Da schreib‘ ich alles rein, was mich quält. Die Leute sagen, ich habe so viel Horrorgeschichten geschrieben, was eigentlich verständlich ist, denn die Zeiten, die wir durchgemacht haben, müssen wir ja abreagieren. Und die kann man nicht abreagieren in einer schönen Liebesgeschichte, die kann man nur abreagieren, wenn man einen Monsterfilm macht wie ‘Wolf Man’. In der Geschichte haben die Menschen sich immer gewünscht, so stark zu sein wie das stärkste Tier in ihrem Land. Das war der Schlangenmensch in Indien. Das war der Tiger. Das war der Wolf in Europa. Und jeder hat sich die Kraft dieses Tieres gewünscht.”
Der “Werwolf” aus Bedburg bei Köln
Gedreht wurde in Hollywood, aber ereignet hatte sich die schaurigste Hinrichtung eines Lykanthropen am 31. Oktober 1589 zu Bedburg bei Köln. Der Mann, der an jenem Tag durch die Hand des Henkers starb, war – so hatte das Gericht entschieden – eine Bestie. Seine Seele habe sich, so wurde gemunkelt, noch im Knabenkörper steckend, dem Bösen zugewandt. Er zauberte zum Schaden seiner Mitmenschen, er beschwor die Toten und rief böse Geister und Dämonen. Peter Stump war ein Hexer! 16 Menschen soll er getötet haben: drei Frauen und 13 Kinder. In der Gestalt eines Werwolfs, eines Mann-Wolfs (Mann = germanisch: wera), der sich vermittels eines Rings aus Menschenhaut oder eines Gürtels vorzugsweise in Vollmondnächten auf die Pirsch machte und das erstbeste Rotbäckchen krallte, das unvorsichtig in seine Nähe kam! Ausgerechnet der Stubbe-Peter, so ein fleißiger Bauer. Von ihm, dem Witwer und Vater zweier Kinder, hätten sie das nicht gedacht. Aber die Zeiten waren schlimm. Warum sollten es dann nicht auch die Menschen sein? Katholische und protestantische Soldateska brandschatzte die Lande, um den Menschen den jeweils richtigen Glauben aufzuzwingen. Der Dreißigjährige Krieg warf seinen unheilvollen Schatten voraus, und dann wob auch noch die Pest ihr Totenhemd. Von da ab war die vermeintliche Idylle aus den Fugen geraten. Aus Ordnung wurde Unordnung. Zuerst fand man auf den Feldern rund um Bedburg tote Kühe. Die Bedburger dachten scharf nach: vielleicht ein Wolfsrudel? Doch dann verschwanden Frauen und Kinder, und zwar spurlos. Keine Überreste, nichts. Wie vom Erdboden verschluckt. In solchen Fällen grassiert das Denunziantentum. So fiel der Verdacht auf den Stubbe-Peter. Geschlechtsverkehr mit einer verheirateten Frau soll er gehabt haben, und, als ob das nicht schon reichte, mit seiner eigenen Tochter. Bald wurde hinter mehr oder minder vorgehaltener Hand geflüstert, bei dem etwa 50-jährigen Peter habe man so einen Wolfsgürtel gefunden. Inquisitoren präparierten ihr Handwerkszeug. In der Folter presste man immer neue Einzelheiten heraus, die aus dem Mund des Täters quollen wie Erbrochenes und sich endlich zu einem grausigen Geständnis verdichteten. Die Inquisitoren hatten leichtes Spiel und bekamen zu hören, wonach ihnen und der abergläubischen Gemeinde der Sinn stand: Stubbe gab zu, seine Opfer mit Haut und Haaren gefressen zu haben.
So wabert, von den großen Filmgesellschaften wiederbelebt, unsterblich teutonische Grusel-Folklore in den Kinosälen – von F. W. Murnau, der am 11. März 1931 bei Santa Barbara tödlich verunglückte, einen Monat nach der Premiere des Lugosi-Dracula, über Werner Herzog und Klaus Kinskis “Phantom der Nacht” (D 1979) bis zu Robert Eggers, Bill Skarsgård als neuem Orlok und Willem Dafoe als Professor von Franz, der mit Vornamen Albin heißt, wie Albin Grau, von Curt Siodmaks “Wolf Man” von 1941 mit Lon Chaney Jr. über Joe Johnstons “Wolfman” von 2010 mit Benicio del Toro zum “Wolf Man” von Leigh Whannell mit Christopher Abbott.
Robert Eggers “Nosferatu” (Trailer auf YouTube) ist nach aktuellem Stand ab dem 02. Januar 2025 in den deutschen Kinos zu sehen, “Wolf Man” (Trailer auf YouTube) von Leigh Whannell ist für den 16. Januar 2025 angekündigt.
Wandertipp:
Werwolf-Wanderweg Bedburg (Rhein-Erft-Kreis)
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