Eine Würdigung des Schauspielers Hans Heinrich von Twardowski anlässlich der Premiere von „Das Cabinet des Dr. Caligari“ vor hundert Jahren.
Der expressionistische Horrorfilm „Das Cabinet des Dr. Caligari“, der am 26. Februar 1920 im Berliner Kino „Marmorhaus“ seine Uraufführung hatte, gilt als ein Schlüsselwerk des deutschen Films und gehört zu den bedeutendsten Kinowerken der Filmgeschichte. "Caligari" wird als Vexierbild eines gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch zerrissenen Deutschlands nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs interpretiert. Der Filmtheoretiker Siegfried Kracauer hat mit seinem filmtheoretischen Standardwerk "From Caligari to Hitler" dem Film ein literarisches Denkmal gesetzt.
Die Kinoproduktion der Decla-Film-Gesellschaft Berlin erzählt die Geschichte des unheimlichen Wanderausstellers Caligari (Werner Krauß), der mithilfe seines schlafwandelnden Gehilfen (Conrad Veidt) Angst und Schrecken im Städtchen Holstenwall verbreitet. Das ungleiche Duo schreckt dabei nicht einmal vor Mord zurück.
Ein Opfer der Verbrecher ist ein junger Mann namens Alan, gespielt von Hans Heinrich von Twardowski. Alans Ableben hat sich im Laufe der Filmhandlung schon in einer Rummelplatzszene mit windschiefen Kulissen angedeutet. Dort stellt Dr. Caligari seinen hellsehenden Somnambulen gegen Geld zur Schau. In einem Zwischentitel fragt Alan den Schlafwandler: „Wie lange werde ich noch leben?“ - und der Schlafwandler antwortet kurz und knapp: „Bis zum Morgengrauen“. Diese schockierenden Worte lassen Alans Gesicht zu einem gleichzeitig ungläubigen wie angstvollem Lachen verzerren, wobei der direkte Kamerablick des Schauspielers die Intensität der Szene erhöht. Der mitternächtliche Mord wird dann als effektvolles, schauriges Schattenspiel auf Alans Schlafzimmerwand inszeniert und ist zugleich der dramatische Cliffhanger vom zweiten zum dritten Filmakt. Filmische Momente, die sich in die Kinohistorie eingegraben haben.
Twardowski, geboren am 05. Mai 1898 in Stettin, war bei den Dreharbeiten zu „Caligari“ kein Unbekannter mehr im Berlin Kultur- und Szeneleben und bereits als Kabarettist, Theaterschauspieler (unter anderem am Lessingtheater, Deutschen Theater und Preußischen Staatstheater) und als Leinwanddarsteller tätig. Peter Panter alias Kurt Kurt Tucholsky zeigte sich in einem seiner pointierten Zeitungsartikel angetan von dessen Liveauftritten: „Der junge Herr von Twardowski, wie er sich selber nennt, las in der Berliner Sezession seine Parodien und Satiren. Es war ein Hauptspaß.“ Bei seinen Soloauftritten gab Twardowski etwa Material aus seinem 1918 erschienenen Essayband „Der rasende Pegasus“ zum besten, das kurz nach Erscheinen bereits in einer deutlich erweiterten Zweitauflage herauskam.
Neben der Bühne war Twardowksi auch schnell auf der Kinoleinwand zu sehen. So spielte er in Richard Oswalds erfolgreichem Horror-Episodenfilm „Unheimliche Geschichten“ mit. Übrigens jenem Richard Oswald, der unter fachlicher Beteiligung von Dr. Magnus Hirschfeld mit „Anders als die Andern“ (D 1919) den ersten aufklärerischen Homosexuellenfilm der Kinogeschichte gedreht hatte. Und auch zwischen Hirschfeld und Twardowski gab es eine Verbindung: Der berühmte Arzt erstellte für den Schauspieler ein Gesundheitsgutachten, das diesen vor einem Einsatz im Ersten Weltkrieg bewahrte. Überhaupt schien in diesem wilden, erotisch wie kulturell aufgeladenen Berlin, das die kreative Boheme genauso wie die Tagelöhner in Scharen anlocke, jede*r jede*n zu kennen. So machte Twardowski mit dem ebenfalls schwulen Schauspieler Hubert von Meyerinck die einschlägigen Szenetreffpunkte des „Dritten Geschlechts“ unsicher.
Nach dem enormen, auch internationalen Publikums- wie Kritikererfolg von „Caligari“ wurde von Twardowski von Caligari-Regisseur Robert Wiene in einem weiteren expressionistischen Kinostück eingesetzt. Auch hier war er ein Mordopfer, dieses Mal der verführerischen „Genuine“, gespielt von der in einer Flut an exotisch-erotischen Kostümen ausgestatteten Fern Andra. Der Film konnte trotz allen Aufwands weder an den Kinokassen noch bei der Filmkritik überzeugen.
Bis zu seiner Übersiedlung in die USA zu Beginn der Tonfilmzeit war Twardowski immer wieder in deutschen, zum Teil überaus aufwändigen Stummfilmen zu sehen, besonders herausragende Rollen, mit denen er heute noch identifiziert wird, blieben aber aus. Rückblickend bemerkenswert sind in dieser Schaffensphase dennoch zwei Filmengagements. So arbeitete er am Drehbuch von Friedrich Wilhelm Murnaus Drama „Phantom“ (D 1922) mit und übernahm zudem eine Nebenrolle. Mit Murnau, auf dem Sprung, einer der besten Filmregisseure des 20. Jahrhunderts zu werden und ebenfalls ein selbstbewusst schwul lebender Mann, pflegte Twardowksi über Jahre Kontakt.
Das andere, heute im Zusammenhang mit dem Schauspieler noch interessantere Kinowerk, war der Sitten- und Aufklärungsfilm „Geschlecht in Fesseln“ (D 1928). In dem visuell und dramaturgisch ansprechend inszenierten Film werden der sexuelle Notstand in Gefängnissen thematisiert und gesetzliche Maßnahmen zur Linderung angemahnt. Twardowski spielt in dem Drama voller schicksalhafter Momente einen schwulen Gefängnisinsassen, der zum Hauptdarsteller, gespielt von Regisseur Wilhelm Dieterle. eine sexuelle Beziehung unterhält. Diese Beziehung wird aus heutiger Perspektive erstaunlich diskriminierungsfrei und einfühlsam dargestellt. Es ist übrigens die einzige Darstellung einer eindeutig schwulen Figur von Twardowski in seinem filmischen Œuvre.
1930 frisch in Hollywood angekommen um an deutschen Sprachfassungen von amerikanischen Filmen mitzuwirken, konnte Twardwoski seine aus Berliner Zeiten stammende Bekanntschaft zu Hollywoodstar Marlene Dietrich reaktivieren. Für die Filmdiva, die ihm bei seinen notorischen Geldsorgen immer wieder unter die Arme griff, soll er in diesen Tagen zu den engsten Vertrauten gehört haben. Von größerer Relevanz für Twardowskis Leben war jedoch seine als überaus dynamisch beschriebene Beziehung zu dem Schauspielerkollegen Martin Kosleck (1904-1994). Bis zu Twardowskis Herzinfarkttod am 19. November 1958 in New York City mit gerade einmal Sechzig waren die beiden Männer dreißig Jahre ein Paar. Daran konnte auch die rätselhaft erscheinende Ehe von Kosleck mit der Schauspielerin Eleonora von Mendelssohn von 1948 bis 1951 nichts ändern.
Im Gegensatz zu Twardowksi engagierte sich Kosleck, der auch als Portraitmaler tätig war, dauerhaft als Schauspieler in Hollywood, in späteren Jahren vor allem in B-Movies aus dem Horrorgenré. Twardowski kehrte ab 1944 den Filmstudios den Rücken - vielleicht auch, weil er im Gegensatz zu Kosleck keine Nazirollen mehr annehmen wollte - und spielte bis zu seinem Lebensende ausschließlich Theater.
Aus seiner amerikanischen Schaffenszeit ragt heute vor allem seine sowohl beeindruckende wie einschüchternde Darstellung des deutschen SS-Obergruppenführers Reinhard Heydrich in dem Antinazistreifen „Auch Henker sterben“ („Hangmen Also die!“, USA 1943) heraus, von Fritz Lang unter der Drehbuchmitarbeit von Bertold Brecht inszeniert. Und vielleicht ist der eine oder die andere Filmnostalgiker*in beim nächsten „Casablanca“-Filmabend mal auf Spurensuche: In dem amerikanischen Kultfilm aus dem Jahr 1942 ist Twardowski in einer kleinen Nebenrolle als Nazioffizier zu entdecken.
Wolfgang Theis, Mitbegründer des Schwulen Museums* in Berlin und langjähriger Mitarbeiter der Deutschen Kinemathek, ist es zu verdanken, dass der bereits fast vergessene Hans Heinrich von Twardowski anlässlich seines fünfzigsten Todestages im Jahr 2008 mit einer Ausstellung im Schwulen Museum* gewürdigt wurde … und so der Scheinwerfer wieder auf einen Schauspieler und Lebenskünstler gerichtet wurde, den kaum jemand beim Namen nennen kann, den aber schon viele gesehen haben und noch sehen werden, vor allem im hundertsten Jubiläumsjahr von „Das Cabinet des Dr. Caligari“.
Autor: Frank Hoyer
Anmerkungen:
• Der Text ist eine leicht überarbeitete Fassung eines Artikels, der in dem Magazin HIStory (Ausgabe 02-2020) des Centrum Schwule Geschichte Köln veröfffentlicht wurde. mehr
• Mehr zu "Das Cabinet des Dr. Caligari" findet man hier auf Stummfilm Magazin.
• Die Friedrich-Wilhem-Murnau-Stiftung hat "Das Cabinet des Dr. Caligari" im Jahr 2014 aufwändig in 4k digital restauriert. Grundlage war das originale Kameranegativ aus dem Bestand des Bundesarchivs. Fehlende Stellen, darunter die erste Filmrolle, und die Einfärbung wurden anhand zahlreicher Kopien aus internationalen Filmerbeeinrichtungen ergänzt bzw. rekonstruiert. Der Film liegt als Blu-ray und DVD (Universum FIlm) mit einem ausführlichen Booklet, einer fünfzigminütigen Dokumentation und weiterem Bonusmaterial vor.