Karl Bartos im Gespräch über seine dramaturgische Musik zu "Caligari"

Seit Frühjahr 2024 ist Karl Bartos mit seiner musikalischen Interpretation des expressionistischen Stummfilms “Das Cabinet des Dr. Caligari” (D 1920) auf Tournee. Stummfilm Magazin sprach mit dem Ex-Kraftwerk-Musiker über den Horrorklassiker und seine Vertonung. 

Was fasziniert Sie persönlich an “Das Cabinet des Dr. Caligari”? 

Der Film war der erste Psychothriller überhaupt. Zunächst ist es der historische Kontext, der einen ins Magische Theater zieht: Im Film spiegelt sich der Schrecken und Wahnsinn des Ersten Weltkriegs. Die Industrie des Tötens wurde erfunden. Und die die Schützengräben überlebten, waren schwer traumatisiert. Ihnen begegnen wir in der Irrenhaus-Szene. Nichts ist für die Insassen dieser Anstalt so, wie es einmal war. Alles am Ort des Geschehens steht im Widerspruch zur Realität.

Dennoch: So schwierig die Zeit für die Menschen war, mit den technischen Innovationen der Moderne entwickelte sich auch die Kunst in vielfacher Weise. Das bringt mich zu einem wesentlichen Punkt: der Begegnung von Kreativität. Das Kunstwerk tritt in das “Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit” ein — und genau in diesem historischen Augenblick trifft die Kreativität der Autoren, des Regisseurs, der expressionistischen Künstler, der Schauspieler, des Produzenten und vieler anderer zusammen. Das mediale Kunstwerk, so wie wir es heute kennen, hat dort seinen Ursprung. Immer wieder wird jetzt vom “Urknall der Popkultur” gesprochen. Gleichzeitig wissen wir heute nur zu gut, wohin die Epoche der Weimarer Republik führte. 

Was kann uns ein Film wie “Caligari” heute noch sagen? 

Auf dem neuen Medium Film verbinden sich die expressionistische Weltsicht mit der Psychoanalyse und der mystischen Geisterwelt der Romantik. Es geht um die Metapher der Kontrolle zwischen Dr. Caligari und Cesare. In gewisser Weise ist der Film eine Vorahnung auf unsere heutige Welt. Wir leben schließlich im Zeitalter der größten Verhaltensmanipulation, die es auf unserem Planeten je gegeben hat. Kybernetik und Künstliche Intelligenz sind eine gigantische Herausforderung für die Menschheit.

Am Anfang handelt die Geschichte von der Suche nach der Wahrheit, aber am Ende stellen wir fest, dass es vielmehr um das Verschwinden der Wirklichkeit geht. Und diese sogenannten alternativen Fakten und Plot-Twists kennen wir nur zu gut.

Wie haben Sie sich dem Film musikalisch genähert? Was ist der kompositorische Grundgedanke? 

Der Film ist ein Spiegel der Psyche. Die Figuren haben ihr Inneres nach außen gewendet. Für mich sind sie wie lebendige Rhythmen: Dr. Caligari (Werner Krauss) bewegt sich in den bizarren Synkopen seiner Wahnvorstellungen und Cesare (Conrad Veidt) schwebt lautlos umher, was seinem hypnotischen Trancezustand entspricht.

Ich überlegte: Wie klingt das Böse eigentlich? Sind böse Dinge dissonant? Es kommt natürlich auf die Perspektive an. Und wie klingt es nun im Inneren des Mörders? Fürchtet er sich etwa vor sich selbst? Vielleicht fühlt er aber Triumph oder Erleichterung. Möglicherweise hört der Teufel keine Dissonanz, sondern einen strahlenen Dur-Akkord und eine wunderschöne Melodie?

Dabei haben Sie auch Geräusche und Stimmen integriert, eher ungewöhnlich für Stummfilmvertonungen ... 

Der Plan war, einen akustischen Code für dieses über 100 Jahre alte Filmkunstwerk zu erfinden, der ihn ins Hier und Jetzt übersetzt. Dafür muss der neue Filmton natürlich zum Geschehen passen. Egal ob wir Zuschauer sind oder in unserer Vorstellung in der erzählten Welt herumspazieren. Denn die Menschen heute nehmen Filme audiovisuell wahr. So habe ich eine Musik geschrieben – zu der auch eine Klangarchitektur gehört –, die mit menschlicher Stimme, Klängen und Geräuschen die damals der Zeit geschuldete Trennung von Bild und Ton aufhebt.

Gelegentlich blitzt sogar Humor auf, etwa, als Caligari seinen geheimnisvollen Somnambulen Cesare füttert ... 

Musik ahmt das Leben auf tiefgreifende Weise nach. So arbeitet die musikalische Poetik sehr häufig mit dem in der Musik enthaltenden Antagonismus, also mit Gegensätzen, mit Kontrasten wie laut/leise, dunkel/hell, hoch/tief, langsam/schnell usw. Auf jeden Fall gehört das Lachen in die Erzählung einer Tragödie.

Die Liveaufführungen scheinen eine ineinandergreifende Mischung aus Livemusik und Programmierungen zu sein ... 

Mein musikalischer Partner Mathias Black steuert in Kenntnis der Partitur live unser Filmorchester und das Sound Design. Da Mathias den Raum aktiv in die Dramaturgie einbezieht, bezeichnen wir seine interdisziplinäre Arbeit als Klangregie. Ich selbst übernehme einige Orchesterstimmen: Streicher, Blechbläser, Klavier. 

Derzeit sind Sie mit „Caligari“ auf Tournee? Wann und wo kann man Sie als nächstes live erleben? 

Unsere nächste Vorführung haben wir im Prinzregententheater in München. Eines kann ich Ihnen jetzt schon versprechen: Es wird nicht langweilig. Ich glaube, der Erfolg unserer Produktion liegt darin, dass sich die Menschen darin wiedererkennen. Die enorme Resonanz macht uns gelegentlich sprachlos.

Und wenn man nicht nach München kommen kann ... 

Weitere Liveauftritte sind bereits geplant. Sobald die Tinte trocken ist, werden die Termine bekannt gegeben.

Wir danken Ihnen sehr für die interessanten Einblicke und wünschen für die kommenden Aufführungen weiterhin viel Erfolg!
Das Interview führte Frank Hoyer. 

Linktipps:
Internetseite Karl Bartos
“Das Cabinet des Dr. Caligari” (Wikipedia)
“Das Cabinet des Dr. Caligari” (Stummfilm Magazin-Sonderseite)
Making-of auf YouTube: Karl Bartos spricht über seinen Soundtrack

Medientipp:
Die Musik von Karl Bartos zu “Caligari” ist erhältich auf CD und Vinyl und zudem bei diversen Streamingdiensten. mehr

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