
Jubiläumsfilme des Aufführungsjahres 1925
Die erste deutsche parlamentarische Demokratie von 1918 bis 1933 bildete den gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und künstlerischen Rahmen für eine der interessantesten Perioden der internationalen Filmgeschichte.
Stummfilme wie Robert Wienes expressionistischer Horrorfilm "Das Cabinet des Dr. Caligari" (1920), Friedrich Wilhelm Murnaus Vampirgeschichte "Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens" (1922) und Fritz Langs Science-Fiction-Monumentalfilm "Metropolis" (1927) entstanden in dieser Zeit, sind vielzitierte Meilensteine der Filmgeschichte und ziehen auch heute noch ein weltweites Publikum in ihren Bann.
Die Initiative "100 Jahre Stummfilm-Klassiker der Weimarer Republik" stellt jedes Jahr eine Auswahl an Filmen vor, die dann ihr hundertjähriges Veröffentlichungsjubiläum feiern. Die Zusammenstellung orientiert sich an der filmhistorischen Bedeutung der Werke, also an inhaltichen, technischen und gestalterischen Kriterien. Auch wurde die Rezeptionsgeschichte berücksichtigt. Die Zuordnung der Film an das jeweilige Jahr richtet sich, soweit möglich, nach den Uraufführungsterminen.
♦ “Zur Chronik von Grieshuus", Regie: Arthur von Gerlach, Uraufführung am 11. Februar 1925 in Berlin im Ufa-Palast am Zoo
♦ “Wege zu Kraft und Schönheit", Regie: Wilhelm Prager, Uraufführung 16. März 1925 in Berlin im Ufa-Palast am Zoo
♦ “Die freudlose Gasse", Regie Georg Wilhelm Pabst, Uraufführung am 18. Mai 1925 im Mozartsaal Berlin
♦ “Wunder der Schöpfung”, Regie: Hanns Walter Kornblum, Uraufführung am 14. September 1925 in Berlin in den Kammerlichtspielen Potsdamer Platz
♦ “Film/Kipho”, Regie: Julius Pinschewer/Guido Seeber, Uraufführung am 25. September 1925 im Haus des Rundfunks im Rahmen der Internationalen Kinematographie- und Photoausstellung Berlin
♦ “Varieté", Regie: Ewald André Dupont, Uraufführung am 16. November 1925 in Berlin im Ufa-Palast am Zoo
♦ “Tartüff”, Regie: Friedrich Wilhelm Murnau, Uraufführung am 20. November 1925 in Wien; Deutsche Erstaufführung am 25. Januar 1926 in Berlin im Gloria-Palast
♦ “Die Verrufenen", Regie: Gerhard Lamprecht, Uraufführungstermin ?
Die Filmbesprechungen werden sukzessive veröffentlicht.
Filmkanon für das Aufführungsjahr 1925

Eindrucksvolle Bilder in umwerfenden Kulissen
Irgendwo auf windumtoster norddeutscher Heide steht die Burg Grieshuus, uralt und verwittert, als sei sie gewachsener Fels. Hier residiert im 17. Jahrhundert der alte Rochus (Arthur Kraußneck) mit seinem ältesten Sohn Hinrich (Paul Hartmann), der ihn beerben soll. Der andere Sohn, Detlev (Rudolf Forster), hat derweil eine Grafenwitwe (Gertrud Welcker) geheiratet und zeigt durch Kleidung und Gebaren stolz, dass er dem Landadel entwachsen ist. Als der alte Burgherr stirbt, will Hinrich das Erbe antreten, aber er war eine unstandesgemäße Ehe mit Bärbe (Lil Dagover) eingegangen, der Tochter eines leibeigenen Bauern. Daraufhin macht ihm Detlev das Erbe streitig. Im Zwist der ungleichen Brüder geraten Bärbe und ihr ungeborenes Kind zwischen die Fronten.
Wenn der Filmkritiker Willy Haas im Film-Kurier über “Zur Chronik von Grieshuus” schreibt: “alles ist allerersten Ranges”, so kann man ihm nur beipflichten. Wie sollte es auch anders sein, wenn man sich die Liste der an diesem Film Beteiligten anschaut: die Kamera führte unter anderem Fritz Arno Wagner, das Drehbuch schrieb Thea von Harbou nach einer Novelle von Theodor Storm, die Bauten stammen von Robert Herlth, Walter Röhrig und Hans Poelzig, die Musik komponierte Gottfried Huppertz, die Darsteller sind oben schon genannt und die Regie führte Arthur von Gerlach. Letzterer hatte zuvor zwar nur einen anderen Film gedreht (den hier zuvor besprochenen Vanina), aber er war seit 1921 Produktionsleiter bei der UFA und konnte finanziell und personell aus dem Vollen schöpfen. “Zur Chronik von Grieshuus” ist geradezu legendär, was die Sorgfalt und Aufwändigkeit der Produktion, aber auch was deren enorme Kosten angeht.
Herausgekommen ist ein schöner Film voller eindrucksvoller Bilder in umwerfenden Kulissen. Die Bauten und Kostüme lassen das 17. Jahrhundert vor den Augen des Kinopublikums wiedererstehen. Aber auch die Handlung kommt nicht zu kurz. “Zur Chronik von Grieshuus” erzählt in neunzig Minuten eine spannende Geschichte mit interessanten Charakteren, rasant geschnitten und ohne Längen. Hartmann und Dagover, sicherlich beide zu alt für ihre Rollen, lassen dies durch ihr mitreißendes Spiel bald vergessen.
Dennoch konnte der Film die von der UFA in ihn gesetzten Erwartungen in den kommerziellen Auslandsverleih, vor allem in die USA, nicht erfüllen. Eine amerikanische Fassung wurde hergestellt und auch in New York aufgeführt, im Fachblatt Variety allerdings fürchterlich verrissen, während der zeitgleich in amerikanischen Kinos anlaufende UFA-Film “Der letzte Mann” große Erfolge feiern konnte. Das amerikanischen Kinopublikum bevorzugte Mitte der Zwanziger Jahre offensichtlich zeitgenössische Themen und konnte mit noch so aufwändig inszenierten Geschichten aus dem alten Norddeutschland wenig anfangen.
Autor: Arndt Pawelczik
Credits
Titel: Zur Chronik von Grieshuus
Regie: Arthur von Gerlach
Drehbuch: Thea von Harbou
Kamera: Fritz Arno Wagner, Carl Drews, Erich Nitzschmann
Darsteller:innen: Arthur Kraußneck, Paul Hartmann, Lil Dagover, Rudolf Forster, Rudolf Rittner, Gertrud Arnold, Gertrud Welcker, Josef Peterhans, Christian Bummerstedt, Hanspeter Peterhans, Hermann Leffler, Ernst Gronau
Produktionsfirma: Universum-Film AG (UFA)
Produzent: Erich Pommer
Uraufführung: 11. Februar 1925 im Berliner Ufa-Palast am Zoo
Weitere Informationen zum Film
Wikipedia
Filmportal
IMDB
Filmanfang auf Filmportal.de abrufbar
DVD-Veröffentlichung

UFA-Kulturfilm mit politisch-ideologischer Schlagseite
Die UFA war 1917 auf Befehl der Obersten Heeresleistung entstanden, um die vielen deutschen Filmgesellschaften zum Zweck wirkungsvollerer Propaganda zusammenzufassen. Von dieser Halbstaatlichkeit und dem Auftrag zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung konnte sich der Konzern auch nach Kriegsende nicht freimachen. So produzierte die Ufa im großen Stil Lehr- und Kulturfilme, im Jahre 1925 allein 1269, größtenteils Kurzfilme für den Lehrbetrieb an Schulen und Hochschulen und für das Vorprogramm in Kinos. Es entstanden auch abendfüllende Kulturfilme.
Der erfolgreichste Langfilm aus der Kulturabteilung der UFA wurde “Wege zu Kraft und Schönheit”. Dass das so war, und dass der Film angeblich in Leningrad drei Wochen lang die Kinosäle füllte, lässt sich vermutlich nicht allein aus seinem hohen Bildungswert erklären. Vielmehr müssen wir vermuten, dass die großzügige Leinwandzeit, die hier auf die Darstellung unbekleideter menschlicher Körper verwendet wird, das Publikum in die Lichtspieltheater lockte.
“Wege zu Kraft und Schönheit” hat ostentativ das Ziel, die Zuschauer:innen für eine aktivere und damit gesündere Lebensweise zu begeistern. Die Darstellung beginnt mit der Idealisierung des antiken Griechenlands, wo wir Jünglinge beim Wettstreit im Gymnasium sehen. Deren Astralkörpern werden im Anschluss die weniger ansehnlichen Menschen der Moderne gegenübergestellt, deren Körper durch ungesunde Büro- und Fabrikarbeit, durch Untätigkeit in der Freizeit und durch Ausschweifungen im Nachtleben deformiert werden und frühzeitig altern.
Dem kann aber vorgebeugt werden, so zeigt uns der Film, denn nun erleben die Zuschauer:innen einen Bilderbogen von Möglichkeiten körperlicher Betätigung, von der Gymnastik über den Tanz zum Sport. Alle Bereiche werden reich und vielfältig illustriert mit Dokumentaraufnahmen aber auch inszenierten Szenen, zum Beispiel einem Wettstreit unter alten Germanen und dem ausgedehnten Thermenbesuch einer vornehmen Römerin.
Mit Ausnahme der abschreckenden Beispiele zu Beginn sehen wir große Mengen an wohlgeformten Körpern – männlichen wie weiblichen, von Erwachsenen und Kindern - in leichter oder ganz ohne Bekleidung. Drastische Darstellungen von Nacktheit werden zwar durch geschickte Kameraführung sowie das Tragen von Trikots und Suspensorien vermieden, das spekulative Element der Aufnahmen ist allerdings unverkennbar. So konnte es nicht ausbleiben, dass “Wege zu Kraft und Schönheit” Ärger mit den Zensurbehörden bekam und einzelne Szenen vor der Zulassung gekürzt oder ganz entfernt werden mussten.
Von der heutigen Warte aus ist es neben der fragwürdigen Darstellung von Kindern vor allem die politische Tendenz des Films, die negativ auffällt. Sein Tenor lehnt sich insgesamt an die deutschen Reformbewegungen des ersten Viertels des 20. Jahrhunderts an, die auch die Nationalsozialisten eklektisch in ihre Weltanschauung integrierten. Vor allem gegen Ende schlägt “Wege zu Kraft und Schönheit” dann aber ganz offen nationalistische Töne an, wenn bei der Darstellung der Jahn’schen Turnerbewegung in den Befreiungskriegen die Bedeutung der körperlichen Tüchtigkeit für die Wehrfähigkeit betont, und das “junge Deutschland” als legitimer Nachfolger des antiken Griechenlands dargestellt wird.
Ausgerechnet der sonst so kritische Siegfried Kracauer äußert sich am 21.5.1925 in der Frankfurter Zeitung erstaunlich positiv über “Wege zu Kraft und Schönheit”: “[…] Der nackte Mensch steht, wie es nicht anders sei kann, im Mittelpunkt dieses Films. Der nackte, nicht der ausgekleidete. Der ungezwungen und rhythmisch sich bewegende, dem die Gelöstheit der Glieder eine Selbstverständlichkeit ist, nicht der seines Körpers ungewohnte, der von den ihm verliehenen körperlichen Gaben keinen Gebrauch zu machen weiß. Damit entfallen von vornherein jene Bedenken, an denen man es von mancher Seite dem Film gegenüber nicht hat fehlen lassen. An der Hingabe, mit der die nackten Gestalten im freien Gelände sich üben, wird ein jedes Begehren, das nicht der Sache gilt, zu Schanden, das Bild bleibt Bild und erhält sich in der ihm gemäßen Distanz, und nur die Freude über Spiel, Gewandtheit und Rhythmik kommt auf. Es ist daher durchaus berechtigt, ja geboten sogar, daß die Besichtigung des Films auch den Jugendlichen gestattet worden ist. […] Schönheitsfehler ungeachtet, ist der Ufa-Film seiner Absicht und seiner Ausführung nach gleich verdienstlich. Ist auch leibliche Tüchtigkeit gewiß nicht das höchste Gut, so ist sie doch ein wesentlicher Teil des richtigen Menschen. Der Film sollte darum die deutschen Großstädte durchwandern und den Schulen zumal vorgeführt werden.”
Autor: Arndt Pawelczik
Credits
Titel: Wege zu Kraft und Schönheit
Regie: Wilhelm Prager
Drehbuch: Nicholas Kaufmann
Kamera: Eugen Hrich, Friedrich Paulmann, Friedrich Weinmann, Max Brink, Jakob Schatzow, Erich Stöcker, Gerhard Riebicke, Helmy Hurt, Kurt Neubert
Darsteller:innen: Mary Wigman und Tanzgruppe, Gerhart Hauptmann, Camilla Horn, Johnny Weissmüller, La Jana uva.
Produktionsfirma: Universum-Film AG (UFA)
Produzent: Alfred Stern
Uraufführung: 16. März 1925 Berliner im Berliner Ufa-Palast am Zoo
Weitere Informationen zum Film
Wikipedia
Filmportal
IMDB
Filmanfang auf Filmportal.de abrufbar
DVD-Veröffentlichung

In jeder Hinsicht ein Meisterwerk
“Die freudlose Gasse” ist unbestreitbar ein Meilenstein in der deutschen Filmgeschichte. Kritiker:innen wie Paul Rotha, Lotte Eisner und Siegfried Kracauer bezeichnen den Film als ein bahnbrechendes Werk, das den Übergang des deutschen Kinos vom “expressionistischen” Stil der späten 1910er und frühen 1920er Jahre zum Stil der Neuen Sachlichkeit in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts markiere. Darüber hinaus war der Film zu seiner Zeit ein Kassenschlager, der mit Asta Nielsen, Werner Krauss, Valeska Gert, Gregori Chmara und nicht zuletzt Greta Garbo in ihrem einzigen Auftritt in einem deutschen Film eine Starbesetzung aufwies. Er katapultierte seinen Regisseur Georg Wilhelm Pabst in die erste Reihe der deutschen Filmemacher.
Das Problem war, dass der Film lange Zeit so gut wie verschwunden war. Weil er unbequeme gesellschaftliche Themen behandelt, wurde “Die freudlose Gasse” im In- und Ausland stark zensiert und verlor Meter um Meter, bis schließlich von der Premierenlänge von drei Stunden kaum noch 60 Minuten übrig waren. Zwischen 1989 und 2009 gelang es dem Münchner Filmmuseum in einer wahren Herkulesarbeit, den Film aus allen verfügbaren Materialien zu rekonstruieren. Es fehlen zwar noch 30 Minuten bis zur Premierenlänge, aber “Die freudlose Gasse” liegt heute in einer leidlich vollständigen Fassung vor.
Und was für eine Freude ist es, diese "freudlose Gasse“ zu sehen! Der Film ist in jeder Hinsicht ein Meisterwerk. Die Handlung zeichnet ein opulentes und gleichzeitig trostloses Bild von Wien in den Inflationsjahren nach dem Ersten Weltkrieg, indem sie die Geschichten von Frauen aus unterschiedlichen sozialen Verhältnissen kunstvoll miteinander verwebt. Sie alle spielen in der Melchiorgasse, der freudlosen Gasse des Titels. Geld, die Liebe zu ihm oder das Fehlen davon, treibt jede Figur in diesem Film an. Hier gibt es nichts und niemanden, der nicht gekauft werden kann.
Die schauspielerischen Leistungen sind durchwegs fabelhaft, wobei die von Asta Nielsen und Werner Krauss besonders hervorstechen. Die ätherische Schönheit der jungen Greta Garbo wird auf atemberaubende und gekonnte Weise von der Kamera eingefangen, auch wenn sie hier schauspielerisch wenig Platz zum Glänzen hat. Der Schnitt und die Kameraführung wirken im Allgemeinen sehr modern, nur die Kulissen erinnern manchmal an den filmischen “Expressionismus” der Vorjahre.
Georg Wilhelm Pabst war auf der Suche nach einem Filmstoff auf den Roman von Hugo Bettauer gestoßen. Er konnte sich die Rechte sichern und Asta Nielsen und Werner Krauß, mit dem er zuvor “Der Schatz” gedreht hatte, für zwei Hauptrollen gewinnen. Greta Garbo hielt sich mit ihrem Entdecker und Regisseur Mauritz Stiller gerade in Berlin auf, wo beide vom internationalen Erfolg ihres schwedischen Films “Gösta Berlings Saga” zu profitieren hofften. Laut Regieassistent Mark Sorkin sah sich der Berliner Produzent Erich Pommer “Die freudlose Gasse” an, sah allerdings keine Zukunft für die Garbo im Filmgeschäft, im Gegensatz zu dem amerikanischen Studioboss Louis B. Meyer, der sich in Berlin aufhielt, den Film vorführen ließ und Greta Garbo sofort nach Hollywood verpflichtete, wo sie binnen kürzester Zeit zum Weltstar aufstieg.
Auch G.W. Pabst war nun gut im Geschäft und sollte in den nächsten Jahren weitere Filme im Stil der Neuen Sachlichkeit drehen, die heute zu den Klassikern des deutschen Stummfilms gerechnet werden. Mit einem Gerücht soll hier noch aufgeräumt werden: Marlene Dietrich hat weder bei “Die freudlose Gasse” mitgespielt, noch hatte sie bei den Dreharbeiten eine Liaison mit Greta Garbo. Diese gern spekulativ ausgeschmückt kolportierte Anekdote beruht auf einer Verwechslung Marlenes mit Hertha von Walther, die hier mitspielt und der Dietrich auf einigen Standfotos aus dem Film ein wenig ähnelt.
Autor: Arndt Pawelczik
Credits
Titel: Die freudlose Gasse
Regie: Georg Wilhelm Pabst
Drehbuch: Willy Haas
Kamera: Guido Seeber, Curt Oertel, Walter Robert Lach
Darsteller:innen: Asta Nielsen, Greta Garbo, Gräfin Agnes Esterhazy, Werner Krauß, Henry Stuart, Einar Hanson, Grigori Chmara, Karl Etlinger, Ilka Grüning, Jaro Fürth
Produktionsfirma: Sofar-Film-Produktion GmbH Berlin
Produzenten: Michael Salkind, Romain Pinès
Uraufführung: Uraufführung am 18. Mai 1925 im Mozartsaal Berlin
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